So nicht, mein Freund! Dreh dein Gerät bitte wieder um.
Eine Tasse Tod
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Info

Der Bruch: 1998 treten FSB-Agenten um Litwinenko vor die Presse und prangern den Missbrauch des Geheimdienstes an. Als einziger zeigt der spätere Dissident dabei sein Gesicht.

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Die Pine Bar im Millennium Hotel am Londoner Grosvenor Square ist ein Ort der Schatten und der geflüsterten Worte. Lederpolster, dunkle Täfelung, gedämpftes Licht aus schwarz bespannten Kronleuchtern: Wem Stil so wichtig ist wie Diskretion, der findet hier ein Refugium. In diesen dunklen Nischen hat Barchef Norbert Andrade schon viele Berühmtheiten versteckt, darunter auch die James-Bond-Stars Sean Connery und George Lazenby.

Die drei Russen, die am winterkalten Nachmittag des 1. November 2006 ihre Drinks bestellten, verbreiteten kaum etwas von dem gefährlichen Glanz, der Spione in unserer Vorstellung umgibt. Zu nachlässig war der Dritte am Tisch gekleidet, ein hellblonder Mann in Jeans und T-Shirt, in dessen Unschuldsgesicht zwei große Augen von nervöser Wachsamkeit kündeten. Er trank grünen Tee, die beiden anderen rauchten Zigarren zum Gin, beschwerten sich über die mickrigen Gläser und orderten gleich mehrere Runden am Stück. Als Andrade das Schnapstablett an den Tisch brachte, stellte sich ihm einer der Männer in den Weg – noch heute erinnert sich Andrade an die seltsam aggressive Stimmung. Nur mit Mühe gelang es ihm, das Tablett neben die Teekanne zu bugsieren.

Die Männer gingen, Andrade räumte ab. Als er den restlichen Tee wegschüttete, wunderte er sich über die Konsistenz: Zähflüssig lief das seltsam gelbliche Gebräu in die Spüle. Woher hätte Andrade auch wissen können, dass die Flüssigkeit, die da in der Londoner Kanalisation versickerte, hochgradig radioaktiv war – und sein Tee trinkender Gast der russische Dissident Alexander Litwinenko.

Litwinenko wohnte in Muswell Hill, einem begehrten Stadtteil im Londoner Norden. Gegen sieben Uhr kam er nach Hause, zog sich um, seine Frau Marina tischte Hühnchen auf. Den Rest des Abends schaute er im Internet russische Nachrichtensendungen.

Er war kaum zu Bett gegangen, als das Erbrechen einsetzte. So heftig musste er sich übergeben, dass Marina in Panik geriet. Feuchte Handtücher, Magnesiumtabletten, nichts wirkte. Seine Körpertemperatur fiel schlagartig, und doch konnte er gar nicht genug von der eisigen Novemberluft einsaugen, die durch die hastig geöffneten Fenster hineinströmte.

„Ich glaube, sie haben mich vergiftet“, sagte er zu seiner Frau.

„Nach dem ersten Schluck Tee war er schon ein toter Mann.“

Richard Wakeford, Epidemiologe

In der folgenden Nacht rief Marina einen Krankenwagen: Die Ärzte im Krankenhaus tippten auf einen Mageninfekt und schickten Litwinenko heim. Doch zwei Tage später ging es ihm noch schlechter. Sein Hausarzt wies ihn umgehend ins Barnet General Hospital ein. Als Litwinenko den Ärzten erklärte, er sei wohl vom russischen Geheimdienst vergiftet worden, schlugen sie einen Psychiater vor. Ihre Erklärung war viel profaner: Lebensmittelvergiftung durch das Sushi, das er am Mittag des 1. November gegessen hatte.

Litwinenko bekam starke Antibiotika, doch sein Körper brach weiter zusammen. Nach drei Tagen konnte er nur noch intravenös ernährt werden. Seine Haare fielen büschelweise aus. Und während die Ärzte ihn auf Aids und Hepatitis untersuchten, wiederholte er immer und immer wieder: Ich bin vergiftet worden! Am 11. November, zehn Tage nach den ersten Symptomen, gab er dem russischsprachigen Auslandsdienst der BBC ein Interview und erklärte, er leide an einer „sehr schweren Vergiftung“. Verübt habe den Anschlag wohl sein italienischer Geschäftspartner Mario Scaramella, mit dem er zehn Tage zuvor in der Sushibar gegessen hatte.

Am nächsten Morgen lagen weitere Untersuchungsergebnisse vor. Reihenweise Tests hatten die Ärzte durchgeführt, darunter auch einen auf radioaktive Verstrahlung: Er fiel negativ aus. Stattdessen fanden die Ärzte etwas viel Rätselhafteres in seinem Blut, einen exotischen Chemikaliencocktail, irgendein Gift, das niemand kannte.

Nach zwei Wochen ohne Diagnose bekam Litwinenko Besuch von einem gut aussehenden Endvierziger mit wirren Haaren und müden, leicht verquollenen Augen: Alex Goldfarb, ebenfalls ein russischer Dissident, der damals die New Yorker Menschenrechtsorganisation International Foundation for Civil Liberties leitete. Nur mit Kittel und Schutzhandschuhen durfte er das Zimmer betreten. Und bloß nicht den Patienten anfassen, warnte ihn die Krankenschwester.

Litwinenko wurde nur noch intravenös ernährt, und noch immer wussten die Ärzte nicht, was da in seinem Blut zirkulierte. Irgendetwas Furchtbares ging in seinem Knochenmark vor, aber was und warum? „Ganz ehrlich“, sagte einer der Ärzte zu Goldfarb, „wir haben keine Ahnung.“

Goldfarb fragte seinen Freund aus. Was es mit dem geheimnisvollen Italiener aus dem BBC-Interview auf sich habe? „Der Italiener hat nichts damit zu tun“, gestand Litwinenko und lief in seinem Zimmer auf und ab, eine blassgraue Erscheinung mit einer Schleppe aus Schläuchen. „Das war nur ein Trick.“ Desinformation, um den Täter in Sicherheit zu wiegen. Damit er nach England zurückkommt, um den Anschlag zu vollenden. Litwinenko hielt sich für stark genug, um den Kampf aufzunehmen.

Am 17. November 2006, mehr als zwei Wochen nach Litwinenkos Zusammenbruch, lag der neue toxikologische Befund vor. Litwinenko war nicht verrückt: Offenbar hatte man wirklich versucht, ihn umzubringen. Die neuesten Testergebnisse wiesen auf Thallium hin, ein seltenes und tückisches Gift.

Mit einer bewaffneten Polizeieskorte wurde Litwinenko verlegt, in ein abgeriegeltes Zimmer auf einer abgeriegelten Station am University College Hospital, einem ultramodernen Gebäudekomplex im Zentrum Londons. Die Anti-Terror-Einheit stand Wache, während die Ärzte mit der Behandlung begannen.

Thallium ist ein äußerst giftiges Element, das sowohl in metallischer Reinform als auch in tödlichen chemischen Verbindungen vorkommt. Es ist ein nahezu perfektes Gift: geschmacklos, geruchsneutral, sehr schwer zu diagnostizieren. Aber es führt zu charakteristischen Symptomen: unregelmäßige Hautschwellungen, rote Flecken, Taubheit in Händen und Füßen. Typisch ist auch starker Haarausfall – wie bei Litwinenko. Die gute Nachricht: Für Thallium gibt es ein Gegengift.

Goldfarb war noch nicht beruhigt und bat John Henry um Rat. Der brillante Toxikologe am Londoner St. Mary’s Hospital war in Litwinenkos Kreisen eine Berühmtheit: 2004 hatte er erkannt, dass irgendjemand dabei war, den ukrainischen Oppositionspolitiker Viktor Juschtschenko zu vergiften, Schlüsselfigur der Orangen Revolution und Gegenspieler des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Das sonderbar gerötete, von Pockennarben überzogene Gesicht im Fernsehen: für Henry ein klarer Hinweis auf eine Dioxinvergiftung.

„Ich weiß, dass Sie mich hier rausholen werden“, sagte Litwinenko in seinem Krankenbett und schüttelte dem Professor die Hand. „Oh, Sie sind stark“, bemerkte Henry. „Ich könnte Liegestütze machen, wenn da nicht diese Schläuche wären“, erwiderte der Patient.

Der kräftige Händedruck ließ Henry an der Diagnose zweifeln. Wie konnte Litwinenko noch so viel Kraft haben? Der Thalliumwert, stellte Henry fest, lag nur um das Dreifache über dem Normalwert – zu wenig, um solche Symptome hervorzurufen. Sein Urteil: Die Ärzte hatten sich in die Irre führen lassen. Hier musste noch etwas anderes im Spiel sein.

Am 20. November war er sicher, dass der rapide Verfall einen anderen Grund hatte. „Es ist nicht Thallium“, sagte er zu Goldfarb. „Sein Knochenmark ist ausgeschaltet, aber seine Muskelkraft voll da. Bei Thallium wäre es genau umgekehrt.“ Die Ärzte gaben ihm Recht und wollten die Behandlung einstellen. An diesem Tag ging es Litwinenko so schlecht, dass er kaum sprechen konnte. Fahlgelb und kahlköpfig ließ sich der 43-Jährige von Goldfarb fotografieren. Am nächsten Morgen druckten die englischen Zeitungen das erschreckende Bild. „Gut“, sagte Litwinenko. „Jetzt kommt er nicht mehr davon.“

Am 22. November, kurz bevor er das Bewusstsein verlor, öffnete er noch einmal die Augen und sagte zu seiner Frau: „Marina, ich liebe dich so sehr.“ In einem von Polizisten bewachten Einzelzimmer hörte in der folgenden Nacht Alexander Litwinenkos Herz zu schlagen auf.

Es wird eine Erlösung gewesen sein. Sein Tod war so qualvoll, dass er seine Lippen durchgebissen hatte.

Litwinenko im Krankenbett

Jeder vergiftete russische Dissident, jeder bewaffnete Polizist vor dessen Tür, jedes Krankenhaus, ja jeder Gegenstand auf der Welt und im Universum besteht aus Atomen.

Im Zentrum eines jeden Atoms sitzt sein Kern, eine dichte stabile Masse aus Protonen und Neutronen, die von starken Kräften zusammengehalten wird. Heliumatome können das All durchqueren, ohne dass ihre Kerne sich verändern. Während Zivilisationen entstehen und vergehen, überdauern die Kerne von Kohlenstoffatomen im Gestein. Aber es gibt auch weniger stabile Atome. Das sind die besonders schweren Atome.

Sagt ein Physiker von einem Atom, es sei „schwer“, dann meint er damit, dass sein Kern mit vielen Protonen und Neutronen beladen ist. Wenn ein schweres Element aus dem Gleichgewicht gerät, können die Folgen dramatisch sein.

Uran, eines der schwersten Elemente, die in der Natur vorkommen, ist so ein schwerfälliger Koloss. In seiner häufigsten Form ballen sich 238 Teilchen in seinem Kern zusammen. Um seine Stabilität herzustellen, stößt es Unmengen von Material aus.

Alphateilchen nennt man die größten und langsamsten dieser Geschosse, sie bestehen aus jeweils zwei Protonen und zwei Neutronen. Wenn das Uranatom eines davon abfeuert, verwandelt es sich in ein leichteres Atom und rutscht so im Periodensystem der Elemente nach unten. Um sich weiter zu stabilisieren, strahlt es nach jedem Alphateilchen Gammastrahlung ab, die aus sehr kurzwelligem Licht besteht. Kurz bevor es endgültig zu Blei-206 wird, wandelt es sich um in Polonium-210. Und an diesem Punkt wird unser Forschungsgegenstand zum Mordwerkzeug.

 
Kreml

Erst als Marina mit Alexander Litwinenko zusammenzog, erkannte sie seine unheimliche und dunkle Seite. Diesen Moment sollte sie nie mehr vergessen.

Marina war Tanzlehrerin. Die zierliche Frau mit dem Pagenkopf, den hohen Wangenknochen und dem spitzen Kinn verliebte sich im Sommer 1993 in Litwinenko, auf dem Fest zu ihrem 31. Geburtstag. Von Anfang an war er für Überraschungen gut. Er war Offizier des russischen Geheimdienstes FSB und hatte schon für den gefürchteten sowjetischen KGB gearbeitet. Trotzdem hatte er etwas Unbekümmertes und Jungenhaftes. Kam spontan mit Blumen vorbei oder einem Beutel Bananen, weil sie die so sehr mochte. Er war leidenschaftlich und loyal und – wie sie später einmal schrieb – „emotional wie ein Kind“.

Doch einige Monate nachdem die beiden ein Paar geworden waren, erlebte Marina einen ganz anderen Alexander.

Sie hatte Fahrstunden genommen. Gegen Kursende ließ ein Verkehrspolizist die Schüler wissen, für 200 Dollar könne sich jeder die Prüfung ersparen. Marina entschied sich dagegen. Sie war eine gute Fahrerin. Der Verkehrspolizist ließ sie durchfallen. Und erhöhte den Preis auf 300 Dollar.

Alexander war außer sich. „Glaubst du, dass ich Tag und Nacht die Korruption bekämpfe, nur damit du Schmiergeld an diese Polizisten zahlst?“, sagte er wütend. Gemeinsam statteten sie dem Polizisten einen Besuch ab. Alexander sprach leise mit ihm, zeigte kurz seinen roten FSB-Ausweis – und nur für einen Moment nahm sein Gesicht einen bedrohlichen Ausdruck an. Sofort wollte der Polizist den Führerschein ausstellen, ohne Prüfung und ohne Gebühr. Das machte Alexander aber nur noch wütender. Marina sollte die Prüfung ablegen und ehrlich bestehen oder durchfallen. Sie bestand. Und da war er wieder, der Alexander, den sie kannte. Lachte und klopfte dem Polizisten auf die Schulter. Sein gefährlicher Doppelgänger war verschwunden.

„Alle in unserer Familie haben Russland verteidigt. Und auch du wirst das tun.“

Alexander Litwinenkos Großvater

Litwinenko kam 1962 in der Sowjetunion zur Welt, er wuchs auf mit den patriotischen Geschichten seines Großvaters, der im Zweiten Weltkrieg Kampfpilot gewesen war. Geschichten von Schulklassen, die wie ein Mann aufgestanden waren, um gegen die Nazis zu kämpfen. Als er fünf Jahre alt war, zeigte ihm der Großvater im Stadtmuseum das Banner der Roten Armee mit dem Schriftzug seines alten Regiments. „Alle in unserer Familie haben Russland verteidigt“, sagte der alte Mann. „Und auch du wirst das tun.“

Und genau das tat er. Mit 17 ging er zur Armee, stieg dort rasch auf und wurde bald vom KGB angeworben. Sein Gegner war das organisierte Verbrechen. Er spionierte dessen Strukturen und Netzwerke aus, untersuchte seine Verbindungen zu Polizei, Firmen und Politikern.

Dann kamen schwierige Zeiten für Patrioten. Die Sowjetunion löste sich auf, 1991 wurde die Russische Föderation gegründet. Im Chaos der Folgejahre verwandelte Russlands politische Elite die alte Staatswirtschaft in etwas komplett Neues: ein völlig enthemmtes System, in dem nach kürzester Zeit eine kleine Gruppe von Leuten mit sehr guten Beziehungen das Sagen hatte. Menschen, die ohne Skrupel ihren kapitalistischen Instinkten folgten und die wertvollsten Unternehmen der Nation unter ihre Kontrolle brachten. Die Oligarchen.

Sie wussten, dass ihr Spiel riskant war. Aus den zig Millionen Dollar, für die sie Anteile an den ehemaligen Staatsunternehmen gekauft hatten, konnten bald Milliarden werden. Doch um diesen Jackpot zu knacken, mussten einige recht unwahrscheinliche Dinge geschehen. Erstens musste der russische Präsident Boris Jelzin an der Macht bleiben und die Kommunisten daran hindern, die Wirtschaft wieder zu verstaatlichen. Dann mussten die Gangster beseitigt werden, die in vielen Unternehmen das Sagen hatten. Und vor allem war es nötig, dass die russische Wirtschaft aufblühte.

Das gewaltige Spiel lief zunächst gut für die Oligarchen. Aber nun mussten sie ihren neuen Reichtum sichern – und die Macht, die er ihnen verschaffte. Und jetzt wurde auch Litwinenko in das Spiel hineingezogen: Plötzlich fand er sich im Umfeld eines dunkeläugigen Bären von einem Mann wieder, des charismatischen Oligarchen Boris Beresowski.

Wenn es ein Datum gibt, an dem Litwinenko begann, den Glauben an sein Land zu verlieren, dann ist es der 2. März 1995. Am Morgen dieses Tages berichtete er seinen FSB-Vorgesetzten über die Aktivitäten der Kurgan-Gang. Auf das Konto dieses Mafiaclans ging eine ganze Reihe von Hinrichtungen und Mordversuchen, darunter auch ein Anschlag auf den ehrgeizigen Geschäftsmann Boris Beresowski. Und weil die Gruppe die Moskauer Polizei unterwandert hatte, fühlte sie sich unantastbar.

Während der Besprechung summte Litwinenkos Pager: Beresowski bat um „sofortigen Rückruf“. Acht bewaffnete Polizisten wollten ihn aus seinem Klub abführen – um ihn im Auftrag der Kurgan-Gang zu ermorden, wie Beresowski glaubte. Litwinenko raste zum Ort des Geschehens, zog seine Waffe und erklärte, dass der FSB den Fall übernehme.

Seine Ankunft rettete Beresowski das Leben. Der Oligarch war ihm so dankbar, dass er erklärte, sie beide seien von jetzt an „wie Brüder“.

Der Vorfall weckte bei Litwinenko erstmals Zweifel an den Absichten der Menschen, mit denen er zu tun hatte. Zunächst aber verdrängte er die Zweifel und kämpfte weiterhin gegen das organisierte Verbrechen. Wie ein Besessener verfolgte er die Wege, auf denen die Mafia die Behörden unterwanderte, einschließlich seines eigenen Arbeitgebers. Sein neuer Freund Beresowski unterstützte ihn: Er vermittelte Treffen mit hochrangigen Funktionären, bis hinauf in den Kreml.

„Ich glaubte, diese Leute würden das Chaos bei Polizei und FSB beenden“, sagte Litwinenko später zu Goldfarb. „Aber das System war verdorben bis ins Mark. Jedes Mal, wenn die Fäden nach ganz oben reichten, stellte sich heraus, dass die Zielperson ein Freund oder Verwandter von jemand Wichtigem war, und die Ermittlungen wurden eingestellt. Nach einer Weile war ich für alle nur der Dorftrottel.“

Im selben Jahr begann der erste Krieg gegen Separatisten in Tschetschenien. Auch Litwinenko wurde in der Kaukasusregion eingesetzt, als Mitglied der Spezialeinheit Osobisty, die für ihr brutales Vorgehen berüchtigt war. Und anfangs glaubte er, was die Medien über die Tschetschenen verbreiteten: Sie seien Terroristen, Vergewaltiger, Folterer, Teufel. Dann aber musste er einen Gefangenen verhören. Er war noch ein Teenager. Der Junge sagte, er hasse den Krieg, aber er müsse doch kämpfen – alle in seiner Schulklasse würden doch kämpfen.

Diese Worte ließen Litwinenko nicht los. Sie erinnerten ihn an das, was sein Großvater von den russischen Schülern erzählt hatte, die gemeinsam gegen die Deutschen ins Feld gezogen waren. Nein, dachte er: Keine Terrororganisation würde es schaffen, dass sich ihr ganze Schulklassen anschließen. Nun wurde ihm endgültig klar, dass seine Vorgesetzten ihn belogen hatten, diese Menschen, denen er vertraute und für die er sein Leben aufs Spiel setzte. Verrat aber war für ihn unentschuldbar.

Die französischen Wissenschaftler Pierre und Marie Curie benannten das radioaktive Polonium Ende des 19. Jahrhunderts nach Maries Geburtsland Polen. Es kommt überall in der Natur vor, in Tabakblättern, in Meeresfrüchten, in winzigen Spuren sogar im menschlichen Körper.

Jede Form radioaktiver Strahlung kann die DNA unserer Zellen schädigen. Allerdings kann der Körper die DNA wieder reparieren. Tatsächlich beschäftigt er sich mit dieser Aufgabe jede Minute unseres Lebens. „Ohne diese Reparaturfähigkeit gäbe es kein Leben“, sagt Richard Wakeford, Professor für Epidemiologie an der Universität von Manchester. „Unsere gesamte Evolution waren wir von solcher Strahlung umgeben, früher war sie sogar höher als jetzt.“ Manchmal allerdings sind die Schäden so groß, dass es nichts zu reparieren gibt. Dann gebe es für die Zelle nur noch den Ausweg abzusterben, sagt Wakeford. „Sie begeht sozusagen Selbstmord.“ Oder sie entartet zu einer Krebszelle.

In der Regel ist es nicht gefährlich, wenn Polonium-210 Alphateilchen an die Umgebung abstrahlt. Denn diese sind so groß, dass sie bereits der Zusammenstoß mit ein paar Luftmolekülen oder der menschlichen Haut stoppt. Finden die Teilchen aber doch einen Weg in den menschlichen Körper – wie durch den Tee, den Litwinenko im Pine Club trank –, sind die Schäden verheerend. „Die Alphateilchen schlagen regelrechte Schneisen in das Körpergewebe“, sagt Wakeford, „dann sterben so viele Körperzellen, dass auch der Mensch stirbt.“

Polonium-210 weist noch eine weitere Eigenheit auf: Es verlässt den Körper sehr schnell wieder. In weniger als zwei Monaten hat sich die Ursprungsmenge halbiert. „Irgendwann findet man keine Spur mehr davon“, sagt Wakeford. Und schon vorher ist die Suche Glückssache, denn anders als viele andere radioaktive Elemente gibt Polonium-210 so gut wie keine Gammastrahlung ab, die man leicht – von außen – aufspüren könnte, zum Beispiel mit einem Geigerzähler. Polonium-210 strahlt fast nur Alphateilchen ab, die im Körper absorbiert werden und deshalb von außen nicht zu entdecken sind.

Tödlich, flüchtig, schwer aufzuspüren: Für Attentäter ist Polonium-210 die perfekte Waffe.

Im Tschetschenienkrieg hatte der FSB geheime Tötungskommandos eingesetzt. Später, in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre, ging er so auch gegen die organisierte Kriminalität vor. Dazu gründete der Dienst eine geheime Sonderabteilung, die entschieden gegen Verbrecher vorgehen sollte, notfalls mit Mord. 40 FSB-Agenten bildeten den Kern dieser „Direktion zur Infiltration krimineller Organisationen“, in der russischen Abkürzung: URPO. Einer von ihnen war Alexander Litwinenko.

Im Dezember 1997 erhielten er und drei seiner Kollegen den Befehl, Beresowski zu ermorden. Niemand aus dem Team wollte den Anschlag ausführen. Schließlich war Beresowski als Eigentümer des größten russischen Fernsehsenders nicht nur ein bekannter Geschäftsmann, bis vor Kurzem war er zudem stellvertretender Direktor des Nationalen Sicherheitsrats gewesen. Die Männer redeten sich ein, dass jemand in der Leitung der URPO einen Fehler gemacht haben musste. Also schrieben sie einen Bericht und schickten ihn an den FSB-Direktor Nikolai Kowaljow.

Alle, die den Bericht unterzeichnet hatten, wurden kurz darauf vom Dienst suspendiert. Für Litwinenko begann eine schwere Zeit. Er litt unter Schlaflosigkeit und nahm ab. Und er traf schließlich zwei Entscheidungen, die für ihn noch kurz zuvor undenkbar gewesen wären.

Zunächst traf er sich im März 1998 mit Beresowski und verriet ihm den Plan des FSB. Einige Monate später trat er dann zusammen mit den anderen suspendierten URPO-Männern vor die Fernsehkameras. Anders als seine Kollegen verbarg Litwinenko bei der Pressekonferenz nicht sein Gesicht. Er wollte sich zeigen: als einer, der auf der richtigen Seite steht. Die Fernsehbilder zeigen einen Mann mit braunem Anzug und bunter Krawatte, sorgfältig gekämmten Haaren und sorgenvollem Gesicht, der eine Erklärung vom Blatt abliest: „Wir möchten klarstellen, dass wir keine Gegner des FSB sind. Es ist auch nicht unsere Absicht, den Sicherheitsdienst des Landes bloßzustellen. Wir wollen ihn stärken und säubern.“

„Allerdings“, fährt Litwinenko fort, „wird der FSB von einigen Personen ausschließlich für deren private Zwecke eingesetzt. Statt seiner verfassungsmäßigen Aufgabe nachzukommen, die Sicherheit des Staates und der Bürger zu gewährleisten, wird der FSB jetzt benutzt, um alte Rechnungen zu begleichen und kriminelle Auftragsarbeiten auszuführen.“

Die Übertragung erregte ungeheures Aufsehen.

Für Litwinenkos Witwe und seinen Freund Alex Goldfarb war dies ein Akt tiefster Loyalität, ausgeführt von einem Mann, der sich nichts vorzuwerfen hatte. Litwinenko habe Beresowski über den Mordauftrag seiner FSB-Oberen informiert, weil dieser Auftrag unmoralisch und rein ideologisch motiviert gewesen sei. Er habe schlicht niemanden ermorden wollen, schon gar nicht seinen Freund. So stellen sie es in dem Buch dar, das sie gemeinsam schrieben: Tod eines Dissidenten. Warum Alexander Litwinenko sterben musste. Man solle auch keine Schlüsse daraus ziehen, dass Litwinenko während des brutalen Tschetschenienkriegs Mitglied der gefürchteten Osobisty war – und später der URPO, die gewöhnlich die skrupellosesten FSB-Angehörigen rekrutierte.

„Ich behaupte nicht, dass ich ein Engel bin“, hat Litwinenko selbst einmal gesagt. „Aber an meinen Händen klebt kein Blut.“

Kann all das stimmen? Martin Sixsmith, ehemaliger Moskaukorrespondent der BBC, glaubt, dass Litwinenko stolz darauf war, dass ihn die geheimnisumwitterte URPO anwarb. „Zu Marina sagte er, es sei eine große Ehre, dafür ausgewählt zu werden“, schreibt Sixsmith in seinem Buch Die Akte Litwinenko. „Er scheint keine Bedenken gehabt zu haben.“

Freunden erzählte Litwinenko, man habe ihn ausgewählt, weil er sich für Untergebene starkgemacht habe, die im Gerichtssaal zur Waffe gegriffen hätten. Und wegen seines Rufs als zäher Typ.

„Es kursieren zahlreiche Geschichten, die Zweifel an dem Idealbild wecken, das seine Witwe von ihm zeichnet“, sagt Sixsmith. Er glaubt, dass Litwinenko in Tschetschenien an Morden beteiligt war. Es gibt sogar Gerüchte, er habe Gefangene eigenhändig gefoltert – Kritiker von Sixsmith halten dies jedoch für Propaganda des Kreml.

Der Historiker und Buchautor Yuri Felshtinsky glaubt, dass Litwinenko vor allem persönliche Interessen verfolgte, als er den FSB öffentlich anklagte. Er traf Litwinenko das erste Mal im November 1998 in Beresowskis Villa. Die beiden wurden Freunde und schrieben später gemeinsam das Buch Eiszeit im Kreml. Das Komplott der russischen Geheimdienste.

Beresowskis Macht während dieser Zeit war immens. Er hatte großen Einfluss auf Boris Jelzin und spielte eine wichtige Rolle in der russischen Medienlandschaft. Obendrein war er eng mit Litwinenkos Chef befreundet, dem frisch gekürten FSB-Direktor Wladimir Putin. Damit galt er vielen als mächtigster Mann Russlands. Felshtinsky ist überzeugt: Es war das Vertrauen auf diese Macht, das Litwinenko dazu trieb, so viel aufs Spiel zu setzen. Er glaubte, dass Beresowski genug Einfluss habe, um die alte Führungsriege des FSB abzulösen.

Aber es gab einen Mann, den Litwinenko falsch einschätzte: Putin. Kurz vor der Pressekonferenz hatte Litwinenko den neuen FSB-Chef getroffen und ihn gedrängt, gegen die Korruption in den Sicherheitsbehörden vorzugehen. Vergeblich. „In seinen Augen konnte ich sehen, dass er mich hasste“, sagte Litwinenko später. „Er war mit Leib und Seele ein FSB-Mann und ich für ihn ein Verräter“.

Trotzdem fühlte sich Litwinenko weiterhin unangreifbar, erinnert sich Felshtinsky: „Er flüsterte mir zu, er wisse aus zuverlässiger Quelle, dass er am folgenden Tag befördert werden sollte. Sie haben ihn dann tatsächlich befördert – ins Lefortowo-Gefängnis.“

Dort verbrachte er die nächsten sieben Monate, der offizielle Haftgrund lautete: Überschreitung von Amtsbefugnissen und Körperverletzung. Im Oktober 1999 wurde er freigesprochen, aber noch vor Verlassen des Gerichtsgebäudes erneut vom FSB verhaftet. Wiederum wegen Körperverletzung – und des Diebstahls einer Dose Erbsen. Die Fernsehbilder seiner Verhaftung lösten allgemeine Empörung aus. Die Anschuldigungen wurden fallen gelassen, und Putin musste sich entschuldigen.

Aber Litwinenko war klar geworden, dass er Russland verlassen musste. „In Putins Augen war er ein Verräter“, sagt Luke Harding, ehemaliger Moskaukorrespondent der britischen Tageszeitung The Guardian, der wegen seiner Putin-kritischen Berichterstattung ausgewiesen wurde. „Und nach dem KGB-Kodex können Verräter mit dem Tode bestraft werden.“ Im März 2000 wurde Putin zum russischen Präsidenten gewählt, im Oktober desselben Jahres floh Litwinenko über die Türkei nach London.

Goldfarb half bei der Aktion. Ebenso wie Beresowski, der wusste, dass auch er bei Putin in Ungnade gefallen war. Denn der neue Präsident stand an der Spitze einer Gruppe von Männern, die es anwiderte, dass Männer wie Beresowski die Reichtümer des Landes unter sich aufteilten – weil sie diese Reichtümer für sich selbst haben wollten. „Es ging nur ums Geld“, sagt Harding. „Diese Gruppierungen hatten keinerlei ideologische Differenzen.“

In den ersten Jahren von Putins Amtszeit brachten seine Leute große Teile des Staatsvermögens unter ihre Kontrolle und wurden zu Multimilliardären. Konflikte mit den ursprünglichen Oligarchen wie Beresowski waren unvermeidbar. „Aber Beresowski war ein Mann, der manchmal die Realität ausblendete“, sagt Yuri Felshtinsky dazu: „Er glaubte allen Ernstes, er könnte Putin stürzen. Deshalb musste er vernichtet werden.“

Putin gab sich nicht viel Mühe, seine Absichten zu verschleiern. Als ihn im Jahr 2000 ein Journalist des Figaro auf Beresowski ansprach, sagte er: „Der Staat hat einen Knüppel. Er schlägt damit nur einmal zu, aber direkt auf den Kopf. Bis jetzt haben wir diesen Knüppel nicht eingesetzt ... aber wenn wir wirklich wütend sind, werden wir nicht zögern.“

Mit Unterstützung des Oligarchen ermittelte und kämpfte Litwinenko in den nächsten Jahren gegen den FSB – so wie er zuvor gegen die organisierte Kriminalität ermittelt und gekämpft hatte. Er war ein aggressiver, konfliktfreudiger Aktivist, sagt Harding.

Im Jahr 2002 veröffentlichten Litwinenko und Felshtinsky ihr Buch Eiszeit im Kreml. Darin behaupteten sie, der FSB habe mehrere Bombenanschläge in Moskau inszeniert, die 1999 die Rechtfertigung für den Zweiten Tschetschenienkrieg lieferten und Putin den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen gesichert haben könnten. Das Buch war ein Racheakt: „Die beiden haben sich mit dem Buch nicht an die Öffentlichkeit gerichtet“, sagt Goldfarb. „Es war eine Nachricht an ihre Feinde – eine Kriegserklärung.“

Zuweilen verrannte Litwinenko sich auf seinem Kreuzzug, seine Vorwürfe nahmen zunehmend paranoide Züge an. Er beschuldigte Putin der Pädophilie und behauptete, der FSB habe Osama bin Laden bei den Anschlägen des 11. September 2001 unterstützt. Vielleicht passiert so etwas, wenn man wahre Macht erlebt hat in all ihrer Größe – und sie sich dann zum Feind macht. Einen solchen Feind zu haben muss schwindelerregend sein, furchtbar – und aufregend. Der Kampf gegen seine mächtigen Feinde scheint Litwinenko berauscht zu haben.

Was immer der Grund für sein Verhalten war: Für seine Gegner war es eine Provokation. Eine Provokation, die sie nicht ewig dulden würden. Am 8. Juni 2006 verabschiedete das russische Parlament ein Gesetz, das den FSB ermächtigte, „auf Geheiß des Präsidenten mit Spezialeinheiten gegen Terroristen und deren Stützpunkte auch außerhalb des Territoriums der Russischen Föderation vorzugehen, um Gefahren für die Russische Föderation abzuwenden“.

Fünf Monate später stieg Litwinenko in die Buslinie 134 Richtung Grosvenor Square. Er war auf dem Weg in die Pine Bar.

Polonium-210 ist sehr leicht löslich und wird schnell vom Körper aufgenommen. Als Litwinenko sich am Abend des 1. November das erste Mal übergeben musste, hatte die Strahlung bereits seine Magenschleimhaut angegriffen.

Die Zellen im Mageninneren reagieren schnell auf das Gift. Schon Minuten nach dem Erstkontakt lösen sie sich von der Magenwand ab und zersetzen sich. Dasselbe Schicksal ereilt den Darm und die empfindliche Haut in Mund und Rachen.

Polonium bombardiert seine Umgebung regelrecht mit Alphateilchen. Die Partikel treffen auf das Gewebe und spalten dabei Elektronen von allen Molekülen ab, die auf ihrem Weg liegen. So werden fortlaufend Zellen zerstört. Das Gift verwandelt sie in Krebszellen oder tötet sie gleich ab.

Und das ist erst der Anfang. Obgleich Magen und Darm geschwächt sind, verdauen sie weiter und transportieren so das Polonium in den Blutkreislauf. Dadurch zerstört sich der Körper selbst: Mit jedem Herzschlag verteilt er das radioaktive Material immer weiter ins Gewebe hinein und in die Organe. Das Blut befördert die ungewollte Fracht in Leber, Milz, Knochenmark, Nieren, Haut und Haarwurzeln. In einem ruinösen Tempo schleudert das Polonium dort Alphateilchen heraus und hinterlässt breite Schneisen absterbender Zellen.

Jetzt wird die Vergiftung auch äußerlich sichtbar. Zu Übelkeit und Erbrechen kommen Kopfschmerzen, Fieber und Durchfall. Die Opfer fühlen sich schwach, auf der Haut können sich rote Schwellungen bilden. Sie verlieren ihre Haare. Bei hohen Dosen brechen sie mit Schwindelgefühlen zusammen, weil der Blutdruck fällt.

Seinen Höhepunkt erreicht das Grauen aber erst, wenn das Gift ins Knochenmark eindringt – der Ort, an dem die Blutkörperchen gebildet werden. Die Alphateilchen schlagen Elektronen aus den Knochenmarkszellen und lassen sie beschädigt oder tot zurück.

Ohne Nachschub an frischem Blut aber spielt der Körper verrückt: Das Lymphsystem versagt seinen Dienst, die Zahl der weißen Blutkörperchen nimmt ab, und das Immunsystem bricht zusammen. Der Körper stirbt – Zelle für Zelle.

„Zu diesem Zeitpunkt war Litwinenko erledigt“, sagt der Epidemiologe Wakeford. „Genau genommen war er schon nach dem ersten Schluck Tee erledigt. Niemand hätte etwas für ihn tun können, er war ein toter Mann. Es ist ein Wunder, dass er so lange durchgehalten hat.“

Polonium-210 ist 250.000 mal so giftig wie Blausäure

Polonium-210 ist rund 250.000-mal so giftig wie Blausäure – die etwa aus Zyklon B entsteht, das Gift, mit dem die Nazis im Zweiten Weltkrieg mordeten. Die Menge, die Litwinenko zu sich nahm, betrug vermutlich ein paar Mikrogramm und hatte die Größe eines Staubkorns. Aber schon das war ein Vielfaches dessen, was ausgereicht hätte, ihn umzubringen.

Auch die Industrie verwendet Polonium. Dennoch es ist nicht leicht zu beschaffen. Und es hat eine sehr geringe Halbwertzeit – also kann es erst kurz vor dem Anschlag hergestellt worden sein. Wer auch immer den abtrünnigen FSB-Mann ermordet hat, hatte Zugang zu einem Kernreaktor.

Giftmorde haben eine lange Tradition bei Russlands Geheimdiensten, sagt der Historiker Boris Volodarsky, früher selbst russischer Geheimdienstmitarbeiter und Kollege von Litwinenko. Das erste Labor hatte schon Lenin einrichten lassen. Man sprach nur vom „besonderen Zimmer“, in dem neue tödliche Toxine entwickelt wurden. „Es gibt auch eine lange Reihe Giftanschläge von russischen Geheimdiensten im Ausland, die sich bis in die frühen 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt“, sagt Volodarsky.

Weniger als 1 Mikrogramm tötete Litwinenko

Zu ihren Hochzeiten verfügte die Sowjetunion laut Volodarsky über das umfangreichste Biowaffenprogramm der Welt. Einigen Quellen zufolge arbeiteten daran rund 40.000 Menschen in 47 verschiedenen Einrichtungen, darunter 9000 Wissenschaftler. Mehr als 1000 dieser Experten befassten sich ausschließlich mit tödlichen Verbindungen. Sie setzten Gase ein. Kontaktgifte, die auf Türgriffe geschmiert wurden. Nervengifte, die nicht nachgewiesen werden konnten. Immer mit einem Ziel: Alles sollte auf eine natürlichen Todesursache hindeuten, zumindest aber Ärzte und Behörden ratlos zurücklassen. „Es ging nie darum, Exempel zu statuieren, das Opfer sollte unauffällig zu Tode kommen, schreibt Volodarsky in seinem Buch The KGB’s Poison Factory. „Dies war ein ehernes Prinzip.“

Es gibt drei Arten von tödlichen Giften: chemische, biologische und radioaktive. Den ersten Anschlag mit einem radioaktiven Gift verübten die Sowjets vermutlich 1957. Das Opfer war Nikolai Chochlow, ein KBG-Offizier, der einige Jahre zuvor in die USA geflohen war. Er brach zusammen, nachdem er auf einem Anti-Kommunismus-Kongress in Deutschland einen Kaffee getrunken hatte. In einem Krankenhaus der US-Armee in Frankfurt wurde Chochlow behandelt und überlebte. Die Diagnose lautete: Verdacht auf Vergiftung mit radioaktivem Thallium.

100 Gramm Polonium-210 wird pro Jahr produziert

In den Jahren vor Litwinenkos Ermordung hatte es eine Reihe ähnlicher Fälle gegeben. 2004 starb Roman Zepow, ein umstrittener Sankt Petersburger Geschäftsmann mit Verbindungen in die Politik: Er wurde bei einem Moskaubesuch mit einer unbekannten radioaktiven Substanz vergiftet. Auf ähnlich mysteriöse Weise war ein Jahr zuvor Juri Schtschekotschichin umgekommen. Als Journalist und Parlamentsabgeordneter hatte er mehrere politische Skandale aufgedeckt, unter anderem, dass der FSB über die Bank of New York Schwarzgeld gewaschen hatte. Schtschekotschichin starb nach einer kurzen Krankheit, die nicht diagnostiziert werden konnte. Die Symptome waren Haarausfall, Erbrechen, rote Flecken auf der Haut und totale Erschöpfung. Nur ein paar Tage später hätte er zu einem Treffen mit FBI-Agenten in die USA fliegen sollen.

Vermutlich haben nicht nur die Russen Nukleartechnik für Anschläge auf ihre Gegner eingesetzt. Die Stasi soll mit radioaktiven Giften und umgerüsteten Röntgengeräten politische Gefangene verstrahlt haben. In anderen Fällen soll sie Dissidenten heimlich mit radioaktiven Chemikalien markiert haben, um sie dann mit Geigerzählern verfolgen zu können.

97% davon stammen aus einer einzigen russischen Fabrik

Im November 2013 berichteten Schweizer Wissenschaftler, sie hätten erhöhte Poloniumwerte in den Hinterlassenschaften des 2004 verstorbenen Palästinenserführers Jassir Arafat gefunden. Seit Arafats Tod hatte es immer wieder Spekulationen darüber gegeben, dass er ermordet worden war. Verdächtigt wurden Israel, konkurrierende Palästinenserführer, sogar Arafats eigene Frau.

Das Schweizer Team war nur eines von dreien, die der Nachrichtensender Al-Dschasira mit der Analyse von Arafats Kleidungsstücken und Zahnbürste beauftragt hatte. Mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit sei Arafat vergiftet worden, urteilten die Experten. Die beiden anderen Teams – eines aus Frankreich, eines aus Russland – kamen einen Monat später zu einem anderen Schluss: Die Poloniumspuren seien natürlichen Ursprungs, ein Giftmord ausgeschlossen.

Nur Länder mit Kernreaktoren sind dazu in der Lage, Polonium zu produzieren. Und 97 Prozent der gerade mal 100 Gramm, die jedes Jahr produziert werden, stammen von einem einzigen Ort: einer umgebauten Kernwaffenfabrik mit höchster Sicherheitsstufe, die 700 Kilometer südöstlich von Moskau am Ufer der Wolga steht.

Die Indizien dafür, dass Russland bei Litwinenkos Tod die Finger im Spiel hatte, häuften sich: Die Attentäter hatten Spuren hinterlassen. Und sie führten nach Moskau.

Wer zuerst auf die Idee kam, Litwinenko auf ein so seltenes Gift wie Polonium-210 zu untersuchen, ist nicht klar. Die meisten glauben, dass der Toxikologe John Henry die geniale Eingebung hatte. Wakeford hingegen will gehört haben, dass es einen Hinweis von Russen gab, die mit den Symptomen von Polonium vertraut waren.

Wer auch immer den Tipp gab: Die Ärzte am University College Hospital untersuchten Litwinenkos Urin auf Gammastrahlung, die besonders durchdringende Form von Radioaktivität, bei der ein Atom überschüssige Energie in Form von Photonen (Lichtteilchen) abgibt. Die Erfolgsaussichten waren gering: „Nur in einem von 100.000 Fällen wird beim Zerfall von Polonium-210 auch Gammastrahlung freigesetzt“, sagt Wakeford. „In seinem Körper aber war eine so große Menge Polonium zerfallen, dass sie tatsächlich fündig wurden.“

Die Diagnose rief umgehend die britische Gesundheitsschutzbehörde auf den Plan. Noch vor Litwinenkos Tod hatte sie ein Team zusammengestellt, das untersuchen sollte, ob es sich um ein politisches Attentat handelte. Sobald der Polonium-210-Verdacht bestätigt war, berechnete das Team die wahrscheinliche Dosis, die Litwinenko eingenommen hatte – und welche Gefahr von ihr ausging.

Weil das Gift menschliche Haut nicht durchdringen kann, war die Wahrscheinlichkeit gering, dass noch jemand verseucht worden war. Aber bei einer so tödlichen Substanz wollten die Wissenschaftler kein Risiko eingehen. Am Morgen nach Litwinenkos Tod informierte die Behördenchefin das britische Kabinett und die Medien.

Kriminaltechniker mit Schutzanzügen und Geigerzählern schwärmten aus, um Litwinenkos Spuren zu verfolgen. Fast überall wurden sie fündig: in der Pine Bar, in den Küchen des Hotels, in Beresowskis Büro, das Litwinenko auf dem Heimweg kurz besucht hatte, und in dem Mercedes, in dem er nach Hause gefahren war.

Die Liste der verstrahlten Stellen wurde immer länger; bald hatten die Wissenschaftler allein in London mehr als 50 Orte identifiziert. Und das, obwohl die Spuren nicht leicht zu finden waren. Weil die Strahlung schwer ist und nur eine sehr geringe Reichweite hat, mussten die Experten auf allen Vieren kriechen, um ihre Sonden bis auf zwei oder drei Zentimeter an die vermuteten Strahlungsquellen heranzuführen.

Jede entdeckte Stelle wurde dekontaminiert. Glatte Flächen wurden mit starker Kalilauge abgewischt. Holz wurde überlackiert und Wände mit dicken Farbschichten überzogen, um die Zerfallsstrahlung zu blockieren. Waschbecken und Badewannen, wurden zertrümmert und die verpackten Scherben als Atommüll entsorgt. Allein die Arbeiten im Millennium Hotel dauerten 19 Tage. Insgesamt waren über 3000 Menschen beteiligt, mehr als 700 wurden auf Verstrahlung getestet.

Auch die Polizei folgte der Spur. Die Mörder hatten Polonium gewählt, weil es nach wenigen Wochen zerfallen sein würde. Doch nun wussten die Ermittler, mit welchem Gift sie es zu tun hatten. Die Zerfallsstrahlung nimmt schnell ab und verändert sich, je nachdem, ob mit dem Polonium hantiert, ob es von einem menschlichen Körper aufgenommen oder ausgeschwitzt wurde. Die Polizei musste nur die Alphastrahlung messen, um den Weg der Attentäter zu rekonstruieren.

Leiter der Ermittlungen war Peter Clarke von der Anti-Terror-Einheit, der auch die Bombenanschläge in London 2005 untersucht hatte. Er setzte sein Team auf zwei radioaktive Spuren an. Die von Litwinenko – und die der unbekannten Täter. In dem Bus, mit dem Litwinenko ins Hotel gefahren war, fanden die Ermittler keine Strahlung. Dafür aber an dem Bild, das neben Litwinenkos Platz in der Pine Bar hing, ebenso wie an seinem Stuhl und auf dem Fußboden um den Stuhl herum. Aus all diesen Messungen und der Aussage des Barkeepers ergab sich eine eindeutige Schlussfolgerung: Das Gift war in den Tee gesprüht worden.

Die Ermittler verfolgten die Spur der Verseuchung weiter zurück, um herauszufinden, wo sich die beiden Russen vor dem Anschlag aufgehalten hatten. Die Ex-KGB-Männer Dmitri Kowtun und Andrei Lugowoi waren am 16. Oktober 2007 zu einem Kurzbesuch nach London gekommen. Die Maschine der russischen Fluggesellschaft Transaero durfte die Polizei nicht untersuchen. Sie fand aber radioaktive Spuren in ihren Zimmern im Parkes Hotel – und in einem British-Airways-Flugzeug, mit dem Lugowoi am 25. Oktober ein zweites Mal nach London gekommen war.

Das Hotelzimmer, das er bei diesem Besuch bewohnte, war so stark verstrahlt, dass es zwei Monate lang versiegelt werden musste. Alle Gäste, die das Zimmer nach ihm bewohnt hatten, wurden auf Radioaktivität getestet.

Während Lugowoi sein Hotelzimmer verstrahlte, flog Dmitri Kowtun mit Aeroflot von Moskau nach Hamburg. Auch dieses Flugzeug gaben die russischen Behörden nicht für eine Untersuchung frei. Dafür fand die deutsche Polizei heraus, dass Kowtuns Hamburger Wohnung verstrahlt war. Alles, was er berührt hatte, war radioaktiv.

Am Tag des Anschlags flogen Kowtun und Lugowoi erneut von Moskau nach London. Lugowoi nutzte die Gelegenheit und ging nach der Landung zum Champions-League-Spiel Arsenal London gegen ZSKA Moskau, früher das offizielle Team des sowjetischen Militärs. Mithilfe der Überwachungskameras ermittelte die Polizei Lugowois Sitzplatz: Er war so stark radioaktiv, dass man ihn herausriss und verbrannte. Die Ermittler waren erleichtert, dass nicht das gesamte Stadion dekontaminiert werden musste.

„Der Staat hat einen Knüppel. Er schlägt damit nur einmal zu, aber direkt auf den Kopf“

Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation

Andrei Lugowoi ist ein Paradebeispiel für einen Unternehmertyp, den man im heutigen Russland häufig antrifft. Ein schwerreicher Mann mit Beteiligungen in der Nahrungsmittel- und Dienstleistungsbranche, Eigentümer eines erfolgreichen Getränkeherstellers und einer Sicherheitsfirma, gute Kontakte zu den Oligarchen. Er hatte das Treffen mit Litwinenko angeregt. Angeblich um eine Reise nach Madrid zu planen, wo er den spanischen Geheimdienst informieren wollte über Verbindungen zwischen der russischen Regierung, dem organisierten Verbrechen und westeuropäischen Geschäftsleuten.

Im Mai 2007 erklärte der Leiter der britischen Staatsanwaltschaft, er habe genügend Beweise, um gegen Lugowoi Anklage wegen des Mordes an Alexander Litwinenko zu erheben. Lugowoi wies von Moskau aus die Anschuldigungen zurück. Das Ganze sei eine Inszenierung des britischen Geheimdienstes, der Russland in ein schlechtes Licht rücken wolle. Ein Auslieferungsgesuch Großbritanniens lehnte Russland ab.

Für die Freunde von Litwinenko deutete das Polonium auf einen Racheakt hin, der von ganz oben angeordnet worden war. Litwinenko selbst war überzeugt, Lugowoi sei vom FSB beauftragt worden – und der wiederum von Putin. Grund dafür seien seine Anschuldigungen gegen Putin und den FSB gewesen, vor allem die in seinem Buch Eiszeit im Kreml.

Aber es gibt auch andere Theorien. Vielleicht musste Litwinenko dafür büßen, dass er gegen den Kodex des Geheimdienstes verstoßen hatte. Vielleicht lag der Grund für seine Ermordung aber auch in jüngeren Ereignissen begründet. Etwa weil Litwinenko Kontakte zum britischen Geheimdienst MI6 geknüpft hatte. Oder weil er Informationen an den spanischen Geheimdienst CNI weiterleitete, wie durch die Enthüllungsplattform Wikileaks im November 2010 und anschließende Reportagen in der spanischen Zeitung El País ans Licht kam.

„Er war im April 2006 in Spanien, und im November wurde er ermordet“, sagt Enthüllungsjournalist Harding. „Die Informationen, die er den Spaniern gab, waren für einige Spitzenleute in Russland nicht nur äußerst peinlich, sondern beeinträchtigten auch noch deren Investitionen. Das war Grund genug, ihn zu ermorden.“

Vielleicht wird sich nie klären lassen, wer Litwinenko warum und in wessen Auftrag umgebracht hat. Sein Tod aber hat klargemacht, dass England keine sichere Zuflucht für Leute ist, die sich mit den Mächtigen in Russland anlegen.

Seit 2006 gab es in und um London eine Reihe von tödlichen und beinahe tödlichen Vorfällen. So wurde im März 2012 der russische Banker German Gorbunzow erschossen. Im selben Jahr brach der Finanzexperte Alexander Perepilitschny vor seinem Haus in Weybridge, 25 Kilometer südwestlich von London, tot zusammen. Der 44-Jährige war drei Jahre zuvor war aus Moskau geflohen, nachdem er einen groß angelegten Betrug aufgedeckt hatte, an dem offenbar Mitarbeiter des russischen Finanzamts, Verbrecherbanden und die Polizei beteiligt waren. Kurz nach seinem Tod und nach zwei ergebnislosen Autopsien erwähnte ein früherer KGB-Überläufer in einem Zeitungsinterview das giftige Natriumfluorid: „Es ist ein farb- und geruchloser Stoff, der sich leicht auf Gebrauchsgegenstände wie Füllern, Telefonen oder Türklinken anbringen lässt – oder irgendwo, wo die Zielperson ihn einatmet. Im Körper wird das Gift abgebaut und ist bei einer Autopsie nicht mehr nachweisbar.“

Am 23. März 2013 nahm die Geschichte eine weitere brutale Wendung: Boris Beresowski wurde tot in einem verschlossenen Badezimmer gefunden. Weil es keine Anzeichen für einen Kampf gab und der Tote Quetschungen am Hals aufwies, vermutete die Polizei, er habe sich erhängt. Beresowski soll unter Depressionen gelitten haben und nach einem kostspieligen verlorenen Rechtsstreit bankrott gewesen sein.

Yuri Felshtinsky hält dies für ein Märchen: „Beresowski war ein zynischer und zäher Bursche, der vieles aushalten konnte.“ Auch finanzielle Gründe habe es nicht gegeben. So sei Beresowski jahrelang knapp bei Kasse gewesen, habe aber gerade in den letzten Monaten vor seinem Tod mindestens 1 Mrd. Dollar aus seinem Vermögen beiseite schaffen können.

Der Oligarch hinterließ keinen Abschiedsbrief. Die Polizei teilte mit, ein Mordverdacht sei nicht gänzlich auszuschließen.

Der rasante Aufstieg von Andrei Lugowoi nach dem Tod von Litwinenko gibt weiteren Anlass für Spekulationen. Denn eigentlich hätte Putin auch in ihm einen Feind sehen müssen. So war Lugowoi früher Mitarbeiter von Beresowski gewesen und hatte sogar im Gefängnis gesessen, weil er einem Mitarbeiter des Oligarchen zur Flucht aus einem Gefängniskrankenhaus verholfen hatte, wo dieser wegen Betruges festgehalten wurde. Ganz zu schweigen von dem Treffen mit dem spanischen Geheimdienst, das für viele mächtige Leute im Kreml sehr unangenehm hätte werden können.

Tatsächlich aber ging es für Lugowoi seit Litwinenkos Tod stetig bergauf. Er wurde zum respektierten Politiker – als stellvertretender Vorsitzender der weit rechts stehenden Liberal-Demokratischen Partei Russlands und des parlamentarischen Sicherheitsausschusses. Diese Ämter garantieren ihm großen Einfluss – und Immunität vor Strafverfolgung. In einer der von Wikileaks veröffentlichten amerikanischen diplomatischen Depeschen heißt es, Lugowoi stehe „unter Putins persönlichem Schutz“. Die Suche nach der Wahrheit über Litwinenkos Tod hatte sich festgefahren.

Dennoch schien im Oktober 2011 der Wunsch von Litwinenkos Witwe Marina endlich in Erfüllung zu gehen: Jahrelang hatten sie sich darum bemüht, dass der britische Staat die Todesumstände ihres Mannes durch eine „Public Inquiry“ klären und öffentlich machen würde. Diese Art von Untersuchung ist eine Besonderheit der angloamerikanischen Ländern, sie führt – anders als ein Gerichtsverfahren – nicht zu einer Verurteilung, sondern zu einem Vorschlag, wie eine Behörde oder die Regierung nun vorgehen sollte.

Und im Dezember 2012 erklärten britische Anwälte, es bestehe ein begründeter Anfangsverdacht, „dass der russische Staat die Verantwortung für den Tod von Alexander Litwinenko“ trage. Zwei Monate später stellten sie einen Auslieferungsantrag für den zweiten mutmaßlichen Täter, Dmitri Kowtun. Ebenso wie Lugowoi bestreitet er die Tat. Und wie Lugowoi weigert er sich, in Großbritannien vor Gericht zu erscheinen.

An einem klirrend kalten Märzmorgen 2013 stand Marina Litwinenko vor dem Gebäude der Royal Courts of Justice, in dem sie soeben die nächste Enttäuschung erlebt hatte. „Mit dem größten Bedauern“ hatte der Richter erklärt, die Untersuchung müsse noch einmal um fünf Monate aufgeschoben werden. „Es ist nicht leicht für mich, aber ich verstehe das“, sagte sie mit ihrem starken russischen Akzent zu den Reportern. „Ich glaube immer noch an die Wahrheit.“

Der qualvolle Tod ihres Mannes lag mehr als 2300 Tage zurück – mehr als die 16-fache Halbwertzeit des Polonium-210, das ihn zerstört hatte. Eine lange Zeit, in der sie sich daran gewöhnt hatte, bei ihrer Suche nach der Wahrheit enttäuscht zu werden. Wer für den Geheimdienst arbeitet, muss mit Verrat leben – das hatte sie aus dem Leben und Sterben ihres Mannes gelernt. Schon ein Schluck Tee kann tödlich sein, und selbst den engsten Verbündeten darf man nicht trauen.

Was die erneute Niederlage bestätigte: Wieder waren es Regierungsvertreter, die ihr eine Niederlage beibrachten. Vertreter einer Regierung, die „vertrauliche Informationen“ über Litwinenkos Verbindungen zu ihrem Geheimdienst von der Untersuchung ausschließen wollte und sogar eine gerichtliche Anweisung ignorierten – und monatelang nicht auf die Anfragen des Untersuchungsleiters reagierten.

Dieses Mal war aber nicht Moskau der Blockierer. Es war London - und der zu schützende Geheimdienst war der britische MI6.

Epilog

Im Januar 2015 beginnt ein neues Kapitel in dieser Geschichte: Dann startet tatsächlich die Public Inquiry, die öffentliche Untersuchung des Todes von Alexander Litwinenko. Es ist die Folge einer überraschenden Kehrtwende: Erst im Juli 2014 kündigte die britische Innenministerin Theresa May den Start des Verfahrens an - ebenjene britische Innenministerin, die sich so lange dagegen gesperrt hatte. Am 5. September 2014 fand die vorbereitende Sitzung statt.

Russische Stimmen sehen einen Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt. Auch wenn die britische Regierung diesen Zusammenhang bestreitet, hat Russland jegliche Mitwirkung an der Untersuchung abgelehnt. Offizielle Begründung: der ungleiche Informationsstand der Beteiligten. Denn die Untersuchungskommission darf zwar geheime Unterlagen einsehen, muss den Verfahrensbeteiligten jedoch nicht mitteilen, was diese enthielten.