Das 600-Millionen-Teile-Puzzle

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Kurz vor dem Mauerfall zerrissen Stasimitarbeiter zigtausende Akten in 600 Millionen Schnipsel. Seit Jahren wollen Informatiker die brisanten Akten vollautomatisch rekonstruieren. Doch ihr Projekt hinkt dem Zeitplan massiv hinterher. Und der Computer braucht noch immer viel menschliche Hilfe.

Wenn irgendwo auf der Welt ein Regime stürzt, dann läutet bei ihm das Telefon, erzählt Bertram Nickolay gern. Die neuen Regierungen brauchten die Expertise seines Hauses. Um das wiederherzustellen, was die alten Machthaber vernichten ließen: ihre geheimen Akten, brisante Papiere über Bespitzelung und Auslandsspionage.

„Wir am Fraunhofer-Institut sind die Einzigen weltweit, die das Material automatisiert wieder zusammensetzen können“, sagt Nickolay und lächelt stolz. Berlin, Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK): Verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit steht hier eine Puzzlemaschine, entwickelt in jahrelanger Arbeit von Nickolays Team. Auftraggeber: der Deutsche Bundestag. Ziel: die brisantesten Akten aus den Archiven der Stasi zu rekonstruieren. 16.000 Säcke voller hastig zerrissener Dokumente, die Bürgerrechtler vor der völligen Vernichtung retten konnten.

In der Abteilung Sicherheitstechnik, die Nickolay leitet, wird seit 2007 an der Maschine gearbeitet. In einem ersten Testlauf sollte sie innerhalb von zwölf Monaten 400 Säcke voller Aktenschnipsel zusammensetzen. Irgendwann wurden daraus 18 Monate, mittlerweile will sich kein Fraunhofer-Mitarbeiter mehr zu einer Zeitprognose hinreißen lassen. Nickolays Begeisterung tut das keinen Abbruch, in schwindelerregendem Tempo wirft er Ideen in den Raum, was alles möglich wird mit der Technik, die hier entsteht: Altägyptische Papyrusschriften und Keramiken könne man elektronisch zusammensetzen, und ein Computerpuzzlespiel für Kinder wolle man als Nächstes entwickeln. Und dann stürzt er auch schon wieder zur Tür. Wieder eine Delegation, die sich für die Puzzlemaschine interessiert.

Kein anderes Projekt der Fraunhofer-Gesellschaft ist ein solches Politikum, kein Projekt steht so in der Öffentlichkeit. Wenn man Nickolay zuhört, könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Puzzlemaschine schon auf Hochtouren läuft wie im ZDF-Historiendrama „Zwischen den Zeiten“, in dem eine Film-Version des Apparats DDR-Schicksale am Fließband rekonstruiert.

Tatsächlich waren im März 2014 erst drei der 400 Test-Säcke verarbeitet, zum Jahresende stieg die Zahl auf acht. Zwar genießt das extrem ehrgeizige Team in der Fachwelt einen guten Ruf, doch über seine Arbeit ist wenig bekannt. Robert Sablatnig, der an der TU Wien das Institut für rechnergestützte Automation leitet, hat mit Nickolays Team in einem eigenen Forschungsprojekt zusammengearbeitet. Er glaubt, dass das Stasiunterlagenprojekt „sehr gut läuft“ – räumt aber ein, dass er so gut wie keine Veröffentlichungen kennt. Weil es kaum welche gibt.

Um zu verstehen, auf welche Aufgabe sich das Fraunhofer-Team eingelassen hat, müssen wir in die deutsch-deutsche Vergangenheit einsteigen. Kurz vor dem Mauerfall zerstörten Mitarbeiter in den Stasi-Kreisdienststellen und Bezirksverwaltungen Abertausende Akten. Die Reißwölfe waren längst überlastet und das Verbrennen in den Innenhöfen hätte zu viel Aufmerksamkeit erregt. Deshalb zerriss das Personal die Papiere von Hand, manche so klein wie Briefmarken, andere so groß wie Postkarten. Nach dem Mauerfall drangen Bürgerkomitees in die Stasi-Niederlassungen ein und retteten, was zu retten war.

Schon die Akten, die unversehrt gerettet werden konnten, ließen informelle Mitarbeiter auffliegen und offenbarten das systematische Doping im DDR-Leistungssport. Aber die wirklich brisanten Erkenntnisse erwarten Historiker von den zerrissenen Akten. „Das sind gerade die besonders wichtigen Unterlagen, die nicht öffentlich werden sollten“, sagt Juliane Schütterle. „Papiere über die Westspionage und die Bespitzelung der Opposition und der Kirche. Vor allem Vorgänge, die aktuell vor dem Mauerfall in Bearbeitung waren.“ Seit 2011 organisiert die 35-jährige Historikerin in der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) die virtuelle Rekonstruktion der Schnipsel.

Auf 600 Millionen Schnipsel wird der Bestand geschätzt, der sich heute großteils auf drei Geschossen in einem Lager bei Magdeburg stapelt. Mit jedem Schnipsel, den man einem Sack entnimmt, stellt sich aufs Neue die Frage: Finde ich die anderen Teile dieser Seite in diesem Sack? Oder in einem der anderen 15.999 Säcke? Und wie erkenne ich in einem Meer von vergilbtem Konfetti genau die Stücke, die ich brauche, um diese eine DIN-A4-Seite zu rekonstruieren?

„Das ist eine einmalige Aufgabe. Nirgendwo sonst auf der Welt kann man einen solchen Einblick in das Innenleben einer Geheimpolizei bekommen“, sagt Schütterle. Als Fahnderin will sie aber nicht gesehen werden: „Das sind wir nicht. Und mir geht es auch nicht um die Jagd nach Personen. Diese Aufdeckung verschafft mir keine Genugtuung.“ Ja, es gehe ihr auch um Gerechtigkeit, vor allem aber um die wissenschaftliche Aufarbeitung, um neue Erkenntnisse – etwa darüber, wie die ehemalige DDR-Regierung Westdeutschland ausspioniert hat.

Schon während ihrer Doktorarbeit über den Uranbergbau in der ehemaligen DDR recherchierte sie im Stasi-Unterlagenarchiv. Immer wieder fielen ihr fehlende Seiten auf. Solche Lücken würde sie gerne füllen, indem sie das Stasi-Unterlagen-Puzzle löst. Schneller, als das heute möglich ist.

Seit 1993 werden die Akten in Handarbeit rekonstruiert. Tag für Tag beugen sich Mitarbeiter der BStU und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Zirndorf über die zerrissenen Seiten. Sortieren, suchen, glätten Kanten und Knicke mit einem Falzbein. Legen Papierteile aneinander, untersuchen Risskanten mit der Lupe. Schließen klitzekleine Lücken, indem sie die Teile millimeterweise zurechtrücken. Während die Augen noch prüfen, eilen die Hände schon voraus und kleben schließlich die Teile mit säurefreiem transparentem Band zusammen. So akkurat, dass man später beim Kopieren der geklebten Blätter oft nicht einmal mehr den einstigen Riss erkennt.

1,4 Millionen Papierseiten sind bis heute mit bloßen Händen rekonstruiert worden. Die geklebten Blätter haben viele Personen vor Gericht gebracht und Lebenslügen entlarvt. Der Theologe Heinrich Fink etwa wurde 1992 seines Amtes als Rektor der Humboldt-Uni enthoben, weil die Stasi ihn als IM führte. Fink beteuerte stets, er habe davon nichts gewusst. Aber 2005 wurde aus dem Sack Nr. 307 seine rund 600 Seiten starke Akte rekonstruiert. Sie beschrieb ihn als sehr willigen IM, der seine Studenten ausspionierte.

Als der Elektrotechniker Nickolay in den neunziger Jahren in der Zeitung liest, dass die Schnipsel von Hand zusammengeklebt werden, ist er davon überzeugt, dass das mit dem Computer viel schneller und billiger geht. Die Idee lässt ihn nicht mehr los. Es ist auch eine persönliche Motivation, die ihn antreibt. Nickolay war befreundet mit dem DDR-Bürgerrechtler Jürgen Fuchs, der 1999 mit nur 48 Jahren an Blutkrebs starb. Bis heute hält sich das Gerücht, die Stasi habe ihn radioaktiv verstrahlt. Eine Untersuchung der zugänglichen Akten ergab keinen Hinweis darauf – Nickolay vermutet den Beweis in den zerrissenen Unterlagen.

Über Jahre knüpft er Kontakte zu Abgeordneten des Deutschen Bundestags. Nach und nach kann er immer mehr Politiker, hauptsächlich aus der CDU/CSU-Fraktion, für seinen Plan gewinnen. Klaus-Peter Willsch, CDU-Politiker, Mitglied im Haushaltsausschuss und bis 2010 im Senat der Fraunhofer-Gesellschaft vertreten, setzt sich für das Projekt ein.

Die Argumentation: Die händische Rekonstruktion werde noch 375 Jahre dauern, bis 2004 habe sie knapp 11,5 Mio.Euro gekostet. Digital sei die Arbeit dagegen in fünf bis zehn Jahren machbar. Der Deutsche Bundestag lehnt den Antrag 2004 zunächst ab, drei Jahre später stellt er schließlich doch die erforderlichen Mittel bereit. 2007 startet das Projekt mit einem Budget von knapp 6 Mio. Euro. Damit soll die Rekonstruktionstechnik entwickelt werden. In einem ersten Probelauf soll diese dann innerhalb eines Jahres 400 Säcke elektronisch puzzeln. 2011 ist dieses Ziel noch immer nicht erreicht, der Bundestag bewilligt weitere 2 Mio. Euro.

Wie ambitioniert das Projekt ist, zeigt ein Wissenschaftswettbewerb, den die US-Militärforschungsbehörde Darpa im selben Jahr veranstaltet. Die Aufgabe: Fünf Dokumente, die jeweils in rund 200 bis 6.000 Teile zerstückelt wurden, sollen elektronisch zusammengesetzt werden.

Die Leute auf der Straße denken immer, der Computer kann das auf Knopfdruck. Ein völliger Irrglaube.

Matthias Prandtstetter, Austrian Institute of Technology

Über 9.000 Forscherteams treten an. Kein einziges kann die fünf zerstückelten Seiten rein maschinell ohne menschliche Hilfe vervollständigen. Auch das Siegerteam um die Jungunternehmer und Programmierer Otavio Good und Keith Walker lässt die Schnipsel zwar maschinell vorsortieren, fügt sie aber im letzten Schritt von Hand zusammen.

Wie will die Fraunhofer-Crew Zigtausende zerrissene Blätter bewältigen, wenn 9000 Forscherteams schon mit fünf Blättern ihre Mühe haben?

Der Rekonstruktionsexperte Patrick de Smet vom staatlichen Institut für Kriminalistik und Kriminologie in Brüssel hat mit seinen Kollegen über der Aufgabe der Darpa gebrütet und letztlich keinen Vorschlag eingereicht. Mehrfach habe er versucht, mit dem Fraunhofer-Team in Kontakt zu treten, das ebenfalls nicht an der Darpa Shredder Challenge teilgenommen hat. Doch er habe nur selten eine Antwort erhalten und keine aufschlussreichen Publikationen gefunden.

Matthias Prandtstetter vom Austrian Institute of Technology (AIT) in Wien hat sich viele Jahre intensiv mit dem Puzzeln von zerrissenen Unterlagen befasst. Er wundert sich nicht darüber, dass kein Team ohne menschliche Hilfe auskam. „Die Leute auf der Straße denken immer, der Computer kann das auf Knopfdruck. Ein völliger Irrglaube“, sagt der Informatiker.

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Das menschliche Gehirn analysiert ein Papierstück anhand verschiedener Merkmale und schließt daraus, wie ein passendes Anschlussstück aussehen muss. So muss er nicht den ganzen Schnipselhaufen durchprobieren. Der Computer dagegen muss stumpf alle Teile aneinandersetzen, und dann ausrechnen, ob beide ein Paar ergeben oder nicht. „Das Problem gleicht damit einem Rundreiseproblem. Wenn ich zehn Städte besuchen möchte, habe ich über eine Million Möglichkeiten, in welcher Reihenfolge ich das tun kann. Genauso viele Möglichkeiten gibt es zehn Schnipsel zu kombinieren. Bei einigen Dutzend Schnipseln lässt sich das noch bewältigen, aber bei Millionen kommt man auf keinen grünen Zweig“, sagt Prandtstetter.

Das Berliner Team hat jahrelang daran gearbeitet, dass sein System unterscheiden kann zwischen einem zerknitterten Stück vergilbten, handbeschriebenen Karopapiers und einem glatten Stück grüner, linierter, maschinenbeschriebener Karteikarte. Auch die Form und die Beschaffenheit der Risskanten soll es analysieren und so die Schnipsel viel effizienter kombinieren. Doch diese Verfahren sind enorm rechenintensiv, mit der unsortierten Masse der Stasi-Schnipsel wäre das System völlig überfordert.

Darum muss man die Menge der in Frage kommenden Puzzleteile massiv eingrenzen. Man kann beispielsweise annehmen, dass Schnipsel, die in einem Sack beisammen liegen, zusammengehören und nur unter diesen Nachbarn nach passenden Puzzleteilen suchen. Aber diese Annahme muss nicht stimmen. Denn niemand weiß, wie die Stasimitarbeiter in ihrer Hast die Schnipsel in die Säcke stopften. Vielleicht verteilten sie diese sogar absichtlich auf viele Säcke. Vielleicht fiel die Hälfte daneben. Aber die Annahme, Zusammenliegendes gehöre zusammen, macht das Puzzle für den Computer überhaupt erst beherrschbar. „Ohne eine solche Annahme kann man gleich aufgeben“, sagt Prandstetter.

Die Puzzlemaschine ist definitiv kein Trichter, in den man die Schnipsel hineinwirft und unten kommen sie dann als ganze Seiten wieder heraus

Juliane Schütterle, Stasi-Unterlagen-Behörde

Auch im Puzzle-Projekt gehen die Mitarbeiter der Stasi-Unterlagen-Behörde so vor: Zunächst öffnen sie die Säcke und versuchen, anhand von Worten auf den Schnipseln zu erfassen, worum es geht, ohne die Schnipsel durcheinander zu bringen. „Wir wollen die wichtigen Sachen zuerst bearbeiten“, sagt Schütterle. Wichtig sind die Akten aus den Hauptabteilungen XX und A, die für Bespitzelung und das Drangsalieren politischer Gegner verantwortlich waren und die Auslandsspionage organisierten.

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Im nächsten Schritt werden die Papiere Schicht für Schicht entnommen. Es liegt zusammen, was zusammen gehört, so die Hoffnung. Schicht für Schicht werden die Schnipsel dann nach Farbe, Papierart und Beschriftung sortiert, damit das Computerprogramm nicht alle erdenklichen Teile abgleichen muss, sondern nur eine kleine Auswahl. „Die Puzzlemaschine ist definitiv kein Trichter, in den man die Schnipsel hineinwirft und unten kommen sie dann als ganze Seiten wieder heraus“, sagt Schütterle.

Das Vorsortieren ist ein wichtiger Schritt und eine Geduldsarbeit, an der wohl viele verzweifeln würden. Manchmal sind die Papiere nicht nur ein- oder zweimal zerrissen, sondern briefmarkenklein zerfetzt. „Das hier ist so ein Extremfall“, sagt Schütterle. Neben ihr sitzt der Archivar Carsten Köppke, den Rücken gebeugt, sein Blick konzentriert auf einen gewaltigen Berg Konfetti gerichtet. Linierte, karierte Fragmente, manche bedruckt, manche handbeschrieben. Köppke legt ein paar der Papierchen in seine Hand und schiebt sie mit den Fingern hin und her. Stücke mit violetter Druckfarbe legt er in einen Karton, Fragmente von Karteikarten in einen anderen. „Man bekommt einen Blick für all die verschiedenen Schnipsel“, sagt Köppke, „und trotzdem sind die Augen am Abend müde.“

Nur das menschliche Auge erkennt auch Hinweise darauf, dass größere Mengen Papier wahrscheinlich zu einer größeren Akte gehören: Ist ein Fetzenstapel zusammengeheftet? Gibt es Bündel von identisch geformten Schnipseln, die darauf schließen lassen, dass hier ein ganzer Stoß Papier am Stück zerrissen wurde? Zwischen einem Monat und zwei Jahren sitzen die Archivare an einem einzigen Sack mit rund 40.000 Schnipseln, umgeben von grauen Pappkartons, in die sie die Fragmente einsortieren. In mühsamer immergleicher Handarbeit, acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche bahnen sie dem Computer den Weg.

Ein gesicherter Kurierwagen fährt die sortierten Schnipsel dann zum Fraunhofer-Institut. Hier soll sie stehen, die Puzzlemaschine, und bereits Hunderte Schnipsel täglich verarbeiten. Eigentlich ist eine Besichtigung geplant, aber dann klappt es doch nicht, die Erklärungen bleiben nebulös. Stattdessen bekommen die Besucher in einem Schauraum eine angeblich baugleiche Anlage vorgeführt.

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Verbrauchte Luft, Computer auf Tischreihen, ein etwa ein Meter breiter Einzugsscanner.

Robert Zimmermann nimmt einige Handvoll Schnipsel aus einem grauen Karton und legt sie vorsichtig in einen Träger aus Klarsichtfolie ein. Die Plastikhülle läuft durch den Scanner, der sie von oben und unten ablichtet.

In der echten Maschine geht es jetzt vollautomatisch weiter, versichert der Wirtschaftsmathematiker. E-Puzzler heißt die Software, an der er zusammen mit vier Studenten arbeitet. Für die Besucher spielt er von Hand am Bildschirm durch, was das Team dem Programm beigebracht hat.

Zimmermann klickt ein digitalisiertes grünes Stück Papier an. „Das kann ich jetzt vervollständigen.“ Er wählt als Suchkriterium die Hintergrundfarbe „grün“ aus. 16 von 30 gescannten Schnipseln haben dieses Merkmal, meldet der Computer. Zimmermann fügt das Merkmal „handbeschriftet“ hinzu. Die Trefferzahl sinkt auf acht. Das Puzzeln kann beginnen.

Suchraumreduktion nennt Zimmermann diesen Teil des Verfahrens. Ähnliche Schnipsel werden gruppiert, so landet beispielsweise alles auf grünem Papier in einer Familie. Und nur innerhalb dieser Familie sucht das Programm zunächst nach passenden Teilen. Erst wenn es nicht fündig wird, dehnt es die Suche auf verwandte Familien aus derselben Schicht des Sacks aus. Findet sich immer noch kein passendes Gegenstück, erweitert das Computerprogramm die Suche schichtweise auf den ganzen Sack.

Dann beginnt das Kombinieren der Schnipsel und damit der anspruchsvollste Teil von Zimmermanns Programmierarbeit. Die Risskanten zweier Papierstücke zu analysieren und so exakt wieder zusammenzusetzen, dass der Text wieder sauber lesbar ist, stellt den Computer vor große Schwierigkeiten.

Gewaltige Datenmengen entstehen, wenn das Programm durchrechnet, ob je zwei Schnipsel zusammenpassen. Die Software läuft auf drei Serverschränken, jeder zweieinhalb Meter hoch, mit einer Speicherkapazität von insgesamt 200 Terabyte. „Über 60 Stücke waren bisher der Gipfel“, sagt Zimmermann. Prinzipiell könnte die Software aber bis zu 10.000 Fragmente verarbeiten, sagt Projektleiter Jan Schneider.

Das Programm macht bisher nur Vorschläge, welche Schnipsel zueinander gehören könnten. Das Zusammensetzen am Bildschirm übernehmen dann doch wieder die Mitarbeiter der Stasi-Unterlagen-Behörde. Der E-Puzzler ist nur ein Assistenzsystem, kein Automat.

Aus gutem Grund behält der Mensch die Oberhand: Rund zehn bis zwanzig Prozent der Vorschläge des Computers liegen daneben. Gerade bei stoßweise zerrissenen Blättern, die zu identisch geformten Schnipseln geführt haben, tut sich das Programm schwer. Und es kann kaum erkennen, was Vorder- und was Rückseite ist. Die Mitarbeiter müssen dann oft die Textfragmente lesen. Die Gabe des menschlichen Gehirns, die Bedeutung von Texten zu erfassen und daraus Rückschlüsse zu ziehen, konnte bisher keine Maschine erwerben.

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Hinzu kommt ein anderes Problem: Zwei Teile müssten theoretisch wie Schlüssel und Schloss exakt ineinander passen. Bei einem Spielzeug-Puzzle ist das auch so. Aber beim Reißen von mehreren Lagen Papier entstehen breite, ausgefaserte Risskanten. Da der Scanner diese Formationen schlecht sieht, tut sich das Programm beim Zusammensetzen identisch zerrissener Dokumente schwer. Was das menschliche Auge beim genauen Hinsehen gut erkennt, muss dem Computer erst mühsam beigebracht werden.

Zimmermann hat gelernt, ein geduldiger Lehrer zu sein und Rückschläge wegzustecken. „Man überlegt sich lange, wie man der Software etwas beibringt“, sagt er. „Und dann kommt dieser Moment, in dem man auf den Startknopf drückt und feststellt: Verdammt! Das läuft auch nicht wirklich besser als vorher.“ Dass er bei dieser Arbeit die Namen bekannter Persönlichkeiten auf seinen Bildschirmen liest, dazu Begriffe wie „Spion“ und „Hauptabteilung XX“, scheint seine Neugier nicht weiter zu wecken. Der 28-Jährige sieht vor allem eines: eine anspruchsvolle Programmieraufgabe.

Und dann kommt dieser Moment, in dem man auf den Startknopf drückt und feststellt: Verdammt! Das läuft auch nicht wirklich besser als vorher.

Robert Zimmermann, Fraunhofer IPK

Eigentlich sollte es Zimmermanns Job gar nicht mehr geben. Doch noch immer hat das System den Probelauf nicht bewältigt, zum Ende des Jahres 2014 waren gerade einmal acht von 400 Säcken abgearbeitet. Schon 2013 hatte das Fraunhofer-Institut eine weitere deutliche Verzögerung angekündigt. Die SPD-Bundestagsfraktion hakte bei der Bundesregierung nach: Warum hinken die Forscher dem Zeitplan derart hinterher?

Es ist alles komplexer als gedacht, heißt es aus der Stasi-Unterlagen-Behörde und aus dem Fraunhofer-Institut: Fachkräftemangel, Probleme mit der Software und dem Scanner. „Die meisten Großprojekte verzögern sich. Das sehen wir doch beim Flughafen“, sagt Schütterle. Und ergänzt schnell, dass sie den BER und den E-Puzzler nicht miteinander vergleichen wolle.

Im Substanz-Interview bezeichnet Nickolay den Scanner als „die eigentliche Bremse im Verfahren“. Denn die Schnipsel müssen von Hand eingelegt und wieder entnommen werden. Das freilich war schon zu Projektbeginn klar. Außerdem staube das alte DDR-Papier stark, der Scanner müsse deshalb mehrmals am Tag gereinigt werden. Nickolay ist auch mit der Qualität der Abbildungen unzufrieden: „Der Genauigkeit gebe ich eine Drei minus.“ Dabei galt das umgerüstete Gerät der Firma Image Access als das beste Modell am Markt.

Das Fraunhofer-Team entwickelt nun, sieben Jahre nach dem Projektbeginn, einen eigenen Scanner, der wie am Fließband arbeiten soll. Ein Image-Video zeigt die Vision der Forscher: Da rieseln Schnipsel auf ein Förderband, vollautomatisch werden sie gereinigt, markiert und von Saugröhrchen einzeln auf einen Träger gelegt, der dann automatisch in den Scanner läuft.

Doch von diesem Scanner existiert nicht einmal ein Prototyp. Wann wird es so weit sein? Und wann werden die 400 versprochenen Säcke endlich bewältigt sein? Frühestens 2016, teilte man dem Deutschen Bundestag mit. „Ich bin schon länger davon abgekommen, irgendwelche Termine zu nennen“, sagt Fraunhofer-Projektleiter Jan Schneider.

Fast 6 Mio. Euro sind in die Entwicklung geflossen, über sieben Jahre vergangen. Ist das Projekt ein Millionengrab, an dessen Ende nur der Inhalt von einigen Dutzend Säcken rekonstruiert sein wird? Wäre das Puzzle womöglich sogar schneller und preiswerter von Hand gelöst? Die Bundesregierung erwartet, dass das Projekt „erfolgreich abgeschlossen wird“, schreibt sie 2013. Doch die BStU-Historikerin Schütterle ist unsicher, ob das virtuelle Verfahren dem manuellen wirklich überlegen ist: „Das werden wir sehen. Es wäre auch ein Ergebnis, wenn es nicht so ist. Wir erwarten aber, dass es schneller ist.“

Die Fakten sprechen bisher nicht gerade für den elektronischen Puzzleprozess. Er sollte weniger Personal benötigen, 2013 arbeiteten aber mehr als 48 Personen am virtuellen Puzzle. Die Stasi-Unterlagen-Behörde will das Team nochmals um 15 Personen aufstocken. Die manuelle Rekonstruktion läuft derzeit parallel mit zehn Mitarbeitern weiter.

Die Handarbeiter haben rund 500 Säcke in über zwanzig Jahren geschafft. Die Mannschaft des elektronischen Puzzles steht bei acht Säcken in sieben Jahren. Man habe aber bereits weitere acht in Bearbeitung, heißt es aus dem Team, das mit den manuellen Rekonstrukteuren im heftigen Wettstreit liegt.

Sein Hauptargument: Der Mensch sei zwar gut darin Seiten wieder zusammenzusetzen, die ein-, zweimal zerrissen wurden. Wenn Blätter aber über vierzig Mal zerrissen wurden, dann müssten sie im Sack schon eng beisammen liegen, damit eine händische Rekonstruktion gelingen könne. Aber kann die Software weit verstreute, briefmarkengroße Schnipsel zusammenfügen? Bisher fehlen Veröffentlichungen, die das belegen.

Trotzdem ist Nickolays Zuversicht ungetrübt. Er möchte weit mehr als Klarheit im Fall seines Freundes Jürgen Fuchs. In Berlin will er eine Rekonstruktionsfabrik für zerrissene Unterlagen eröffnen und rechnet schon mit voller Auslastung. Schließlich stünden die Regierungen Schlange; Finanzbehörden und Ermittler wollten geschredderte Papiere von Steuerflüchtlingen und Industriespionen rekonstruieren.

„Das wäre ein Wahnsinns-, ein Milliardengeschäft“, sagt AIT-Forscher Matthias Prandtstetter. „Aber wenn es eine solche Fabrik je geben sollte, werden die Geheimdienste sie am liebsten selbst betreiben.“•