Der Mann, der sich selbst heilen wollte

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Die Multiple Sklerose gilt als unheilbare Krankheit. Scott Johnson ist ein Patient, der sich damit nicht abfinden wollte: Er nahm die Entwicklung neuer Medikamente selbst in die Hand. Über 14 Jahre hat der Laie ein straff organisiertes Forschungsnetzwerk aufgebaut, das auch Experten beeindruckt.

Fast zärtlich wiegt Christine Stadelmann das Gehirn in ihren Händen, das macht ein leise schmatzendes Geräusch. „Klein und weich, das ist bestimmt von einer Frau“, sagt die Neuropathologin und kichert: „Nur ein Witz.“ Um sie herum zahllose weitere Gehirne in großen Einmachgläsern, die Lüftung im Keller der Göttinger Universitätsmedizin kommt nicht mehr an gegen den süßlich-stechenden Geruch des Formalins, in dem die Organe schwimmen. Stadelmanns Assistent Alonso Barrantes-Freer säbelt dicke Scheiben von dem Gehirn ab, so wie man ein Brot schneiden würde, und legt sie auf einem Blech aus. Dann mustert er gemeinsam mit der Professorin die Verästelungen der weißen Hirnsubstanz. Mit dem Skalpell nimmt er hauchdünne Materialproben von dem Gehirn und gibt sie in kleine Plastikbehälter. Die Wissenschaftler ziehen ihre Umhänge aus und verlassen die Pathologie. Sie müssen mit den Amerikanern telefonieren.

Es klimpert, wenn Mikael Simons über die Straße eilt. In der Tasche seines Kittels schlagen eine Stimmgabel und ein kleiner Hammer aneinander: das Werkzeug, mit dem er die Reflexe seiner Patienten testet. Mehrmals am Tag rennt der Neurologe über die viel befahrene Straße. Auf der einen Seite liegt die Spezialambulanz für Multiple Sklerose der Universitätsmedizin Göttingen, hier trifft Simons seine Patienten. Auf der anderen Seite liegt das Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin, dort sucht er nach Therapiemöglichkeiten für die Krankheit. Der weiße Kittel lässt die Autofahrer bremsen, ohne ihn wäre Simons womöglich schon längst überfahren worden. Für Ampeln hat Simons keine Zeit. Auch zum Umziehen nicht, unter dem Arztkittel trägt er nur ein dünnes Hemd. „Bisschen kalt“, sagt Simons. Es sind drei Grad über null. Er muss mit den Amerikanern telefonieren.

14 Jahre zuvor im Silicon Valley: Beim Blättern durch ein Magazin bleibt der Geschäftsmann Scott Johnson an einer kleinen Forschungsmeldung hängen. Es geht um eine mögliche Therapie der Multiplen Sklerose (MS) – der Nervenkrankheit, unter der er seit seiner Jugend leidet. Rätselhafte Entzündungen in Gehirn und Rückenmark greifen dabei das Myelin an, das die Nervenbahnen als Hülle umgibt. Die Nerven leiten Signale dadurch nicht mehr richtig weiter, was zu einer ganzen Reihe von Symptomen führen kann. Viele Patienten verlieren zum Beispiel das Gefühl in Armen oder Beinen und haben sie nicht mehr richtig unter Kontrolle. Wenn der Körper es nicht schafft, die beschädigten Hüllen zu reparieren, gehen irgendwann die freigelegten Nerven selbst zugrunde.

Lange hatte niemand geglaubt, dass die Myelinscheiden repariert werden können, nun liest Johnson, dass ein Forscher genau das versuchen will. Noch am selben Tag schreibt er dem Wissenschaftler eine E-Mail, verbringt von nun an die Nächte am Computer und recherchiert. Und kommt zu dem Schluss: Die Reparatur des Myelins gilt als möglich, wird aber in seinen Augen zu wenig erforscht. Die Ursachen der Krankheit beschäftigten die Wissenschaft mehr als ihre Behandlung, sagt Johnson. Er sah das Problem im „Translational Gap“, dem sprichwörtlichen Graben zwischen der Grundlagenforschung und ihrer praktischen Anwendung bei der Entwicklung neuer Medikamente. Wie bei vielen anderen Krankheiten auch verschwanden Erkenntnisse in diesem Graben, ohne bei der Behandlung jemals von Nutzen zu sein. Manche nennen den „Translational Gap“ auch das „Tal des Todes“, weil so viele Patienten vergeblich auf neue Medikamente warten.

Details zur Studie, auf die Scott Johnson stieß

Transplantation of Cryopreserved Adult Human Schwann Cells Enhances Axonal Conduction in Demyelinated Spinal Cord

Ikuhide Kohama, Karen L. Lankford, Jana Preiningerova, Fletcher A. White, Timothy L. Vollmer, Jeffery D. Kocsis

Abstract

Schwann cells derived from human sural nerve may provide a valuable source of tissue for a cell-based therapy in multiple sclerosis. However, it is essential to show that transplanted human Schwann cells can remyelinate axons in adult CNS and improve axonal conduction. Sections of sural nerve were removed from amputated legs of patients with vascular disease or diabetes, and Schwann cells were isolated and cryopreserved. Suspensions of reconstituted cells were transplanted into the X-irradiation/ethidium bromide lesioned dorsal columns of immunosuppressed Wistar rat. After 3–5 weeks of extensive remyelination, a typical Schwann cell pattern was observed in the lesion zone. Many cells in the lesion were immunopositive for an anti-human nuclei monoclonal antibody. The dorsal columns were removed and maintained in an in vitro recording chamber; the conduction properties were studied using field potential and intra-axonal recording techniques. The transplanted dorsal columns displayed improved conduction velocity and frequency–response properties, and action potentials conducted over a greater distance into the lesion, suggesting that conduction block was overcome. These data support the conclusion that transplantation of human Schwann cells results in functional remyelination of a dorsal column lesion.

J Neurosci. 2001 Feb 1; 21(3): 944–950.

Johnson fällt eine sehr amerikanische Entscheidung: Er will die Dinge selbst in die Hand nehmen. „Von Forschung hatte ich zwar keine Ahnung“, sagt er. „Aber als Geschäftsmann hatte ich gelernt, ökonomisch zu handeln. Ich dachte, dass man das Ganze beschleunigen könnte, wenn man es anders organisiert.“ Heute arbeiten Christine Stadelmann und Mikael Simons für ihn – und eine Reihe weiterer Forscher weltweit. Der Patient ist zum Auftraggeber geworden. 60 Mio. Dollar Spendengelder stecken in seiner Myelin Repair Foundation (MRF), einem straff organisierten Forschungsverband mit genau einem Ziel: so schnell wie möglich ein neues Medikament zu entwickeln, das zerstörtes Myelin heilen kann.

„Accelerated Research Collaboration Model“ nennt Johnson das Konzept hinter seiner Stiftung, die er wie ein Unternehmen führt: genaue Zeitvorgaben, laufende Kontrolle der Etappenziele, ständiger Austausch per Telefon- und Videokonferenz. Dabei sollen die Forscher gezielt der Pharmaindustrie zuarbeiten. Trotzdem bleiben sie unabhängig, weil sie nicht auf der Gehaltsliste der großen Firmen stehen: Stattdessen werden sie von der MRF bezahlt, die als Non-Profit-Organisation arbeitet.

Ein Rahmenplan listet alle offenen Fragen zur Myelinreparatur auf, vier „Principal Investigators“ mit ihren Teams arbeiten sie systematisch ab, je nach Bedarf werden weitere Forschergruppen eingebunden. Wichtige Ergebnisse versuchen Wissenschaftler im hauseigenen Zentrallabor in San Francisco zu reproduzieren. Momentan läuft einer der ersten klinischen Versuche: Die MRF will testen, ob ein bestimmtes Blutdruckmedikament Myelin bildende Zellen vor Entzündungen schützen kann.

Die Vorstudie zum klinischen Test

Pharmaceutical integrated stress response enhancement protects oligodendrocytes and provides a potential multiple sclerosis therapeutic

Sharon W. Way, Joseph R. Podojil, Benjamin L. Clayton, Anita Zaremba, Tassie L. Collins, Rejani B. Kunjamma, Andrew P. Robinson, Pedro Brugarolas, Robert H. Miller, Stephen D. Miller & Brian Popko

Abstract

Oligodendrocyte death contributes to the pathogenesis of the inflammatory demyelinating disease multiple sclerosis (MS). Nevertheless, current MS therapies are mainly immunomodulatory and have demonstrated limited ability to inhibit MS progression. Protection of oligodendrocytes is therefore a desirable strategy for alleviating disease. Here we demonstrate that enhancement of the integrated stress response using the FDA-approved drug guanabenz increases oligodendrocyte survival in culture and prevents hypomyelination in cerebellar explants in the presence of interferon-γ, a pro-inflammatory cytokine implicated in MS pathogenesis. In vivo, guanabenz treatment protects against oligodendrocyte loss caused by CNS-specific expression of interferon-γ. In a mouse model of MS, experimental autoimmune encephalomyelitis, guanabenz alleviates clinical symptoms, which correlates with increased oligodendrocyte survival and diminished CNS CD4+ T cell accumulation. Moreover, guanabenz ameliorates relapse in relapsing-remitting experimental autoimmune encephalomyelitis. Our results provide support for a MS therapy that enhances the integrated stress response to protect oligodendrocytes against the inflammatory CNS environment.

Nature Communications 6, Article No. 6532, 13. März 2015, http://doi.org/10.1038/ncomms7532

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Scott Johnson

Auf den ersten Blick sieht Scott Johnson wie ein kerngesunder Mann in den Fünfzigern aus. Sympathisches, rundes Gesicht, breite Glatze und ein fester, aber freundlicher Blick. Erst wenn er aufsteht, sieht man, dass sein rechter Arm wie leblos herabhängt. Die rechte Hand kann er zum Gruß nicht mehr reichen, die linke Hand drückt kräftig zu. Er leidet inzwischen schon stark an den Folgen der Multiplen Sklerose. Weil sein Körper teilweise gelähmt ist, sitzt er auf Reisen im Rollstuhl. Mit seiner Krankheit verhalte es sich wie mit einem Eisberg, sagt Johnson: Nur zehn Prozent davon seien an der Oberfläche sichtbar. Was andere Menschen nicht sehen können: das Gefühl wie von Stromstößen, die durch seinen Körper jagen, wenn er aufsteht. Dass er seine Beine nicht spürt, wenn er sie mit den Händen berührt. Oder die ständige Müdigkeit, die durch die Augustwärme noch schlimmer wird, weshalb er bei unserem Gespräch die Klimaanlage hochdrehen lässt.

Scott Johnson war 20 und gerade auf Rucksacktour durch Europa, als die Krankheit kam. Von einem Tag auf den anderen war er auf einem Auge blind, von der Hüfte abwärts alles taub. Ein Arzt in Wiesbaden stellte die Diagnose. Von Multipler Sklerose hatte der junge Scott Johnson noch niemals etwas gehört. Bis heute gibt es kein Medikament, das die Multiple Sklerose heilen kann. Damals gab es noch nicht mal eines, um sie zu behandeln. Die Symptome klangen irgendwann wieder ab. „Ich versuchte, die Krankheit zu ignorieren, und machte weiter mit meinem Leben“, sagt Johnson. Was hätte er auch sonst tun sollen.

Er lebte lange Zeit einigermaßen gut mit der Krankheit, schloss sein Studium ab und gründete eine Familie. Als 1993 ein Medikament gegen MS auf den Markt kam, war Johnson einer der ersten Patienten, die es erhielten. Er sollte noch viele weitere ausprobieren: „Ich hatte nie das Gefühl, dass mir eines wirklich geholfen hätte“, sagt er. MS verläuft häufig in Schüben, bei denen die Patienten unter starken Symptomen leiden. Diese bilden sich meist teilweise, aber selten vollständig wieder zurück. Oft traten Schübe dann auf, wenn Johnson sich freigenommen hatte, um mit Frau und Tochter zu verreisen. Statt in den Urlaub zu fahren, legte er sich ins Bett und ging anschließend wieder zu Arbeit. Irgendwann ging die MS in eine neue Phase über. Die Schübe blieben aus, dafür ging es ihm nun schleichend, aber beständig immer schlechter. Johnson fand sich damit ab, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden. Bis er dann eines Tages auf die kleine Meldung in dem Magazin stieß.

Mit geübter Hand schiebt Mikael Simons eine Patientin im Rollstuhl durch die Multiple-Sklerose-Ambulanz, sie soll eine Kortisoninfusion erhalten gegen die Entzündung in ihrem Nervensystem. Bis heute ist unklar, warum das Immunsystem bei MS-Patienten überreagiert und die Myelinscheiden angreift. Das Immunsystem herunterfahren – so sieht die Therapie bisher meistens aus. Doch die Behandlung schlägt nicht bei allen Patienten an und kann zu starken Nebenwirkungen führen.

Normalerweise wird das Kortison zur Therapie von akuten Schüben eingesetzt, hier wird es auch in fortgeschrittenen Phasen der Krankheit erprobt. „Wem es dann tatsächlich noch hilft, wissen wir aber nicht genau“, sagt Simons leise, als er die Patientin weggebracht hat.

Der schlanke Mittvierziger ist ein zurückhaltender Typ. Er wirkt meistens ernst, kann aber urplötzlich sehr spitzbübisch grinsen. Im Umgang mit Patienten hat er die typische sachliche Art des Mediziners. Emotionalität helfe den Kranken nicht weiter, sagt er. Simons ist vor allem ehrlich zu seinen Patienten. Wenn sie wissen wollen, worauf sie sich einstellen müssen, antwortet er mit einer Faustregel: Etwa ein Drittel der Betroffenen leidet auch nach Jahren noch kaum unter Symptomen. Ein anderes Drittel ist beeinträchtigt, kann aber den Alltag noch selbstständig meistern. Bei einem weiteren Drittel führt die Krankheit zu schwersten Behinderungen. Wie sich die Multiple Sklerose entwickeln wird, lässt sich im Einzelfall schwer vorhersagen. Mediziner nennen sie deshalb die Krankheit der 1000 Gesichter.

Wenn er mal wieder von einem Kongress zurückkommt, erzählt er Patienten davon, wie die Erforschung neuer Therapien voranschreitet. Anders als viele andere Wissenschaftler hat Simons die Krankheit, die er bekämpfen will, ständig vor Augen. „Die Klinik zeigt einem die Wirklichkeit“, sagt er. Dass er selbst nach einer Therapie für die Krankheit sucht, dort drüben auf der anderen Straßenseite, das sagt Simon seinen Patienten nicht. Er möchte keine falschen Hoffnungen wecken.

Im Max-Planck-Institut ist seine Tür immer offen. Er will für die Mitarbeiter ansprechbar sein, die im Labor nebenan experimentieren. Bunte Kinderzeichnungen pflastern die Wand hinter seinem Schreibtisch, auf dem Tisch liegt ein Fahrradhelm. Wenn seine Zeit es zulässt, fährt Simons zum Mittagessen nach Hause zu seiner Familie. Allzu oft ist das nicht, elf Stunden pro Tag arbeite er im Schnitt, sagt Simons: „Ich weiß nicht, ob das jetzt so viel ist“, es sei auch schon mal mehr gewesen.

Im Labor nebenan hocken Simons’ Doktoranden vor ihren Monitoren. Über den langen, weißen Arbeitsflächen stapeln sich Plastikboxen voller Dokumente, Spender für Einweghandschuhe, Röhrchen mit bunten Schraubverschlüssen. In einem kleinen Kunststoffkäfig trippelt eine winzige dunkelgraue Maus auf und ab.

Simons braucht die Nager, um herauszufinden, wie das Myelin natürlicherweise entsteht. Die meisten Mäuse, mit denen er arbeitet, sind ein bis drei Wochen alt, in dieser Phase wird gerade die Sehnervhülle gebildet.

Neben den Nervenzellen, den Neuronen, besteht das Nervengewebe aus Gliazellen, die ein Versorgungs- und Unterstützungsnetzwerk für die Neuronen bilden. Eine Art dieser Gliazellen, die Oligodendrozyten, bildet Fortsätze aus. Diese wickeln sich in mehreren Schichten um die langen Fortsätze der Nervenzellen, die Axone. So entsteht eine Hülle, die Myelinscheide genannt wird. Die Fortsätze der Oligodendrozyten bedecken das Axon aber nicht komplett, zwischen ihnen gibt es schmale Lücken. Elektrische Signale können so von Lücke zu Lücke springen und werden auf ihrem Weg durch das Axon enorm beschleunigt.

So entstehen die Myelinscheiden: Die Ausläufer der Oligodendrozyten (violett) wickeln sich um die Axone der Neuronen (gelb). Im erwachsenen Gehirn findet dieser Prozess kaum noch statt, offenbar aufgrund von Hemmstoffen. Die Nerven wiederum können mithilfe von Signalmoleküle die Ausschüttung dieser Hemmstoffe stoppen, um Myelinschäden zu reparieren.

Simons möchte gern wissen, was die Oligodendrozyten dazu bringt, sich um die Nerven zu schlingen. Wie wird dieser Vorgang gesteuert, welche Signale stoppen ihn? Welche setzen ihn wieder in Gang, um beschädigte Myelinscheiden zu heilen? Bis heute sind solche Fragen nur unvollständig geklärt. Bei etwa jedem fünften MS-Patienten funktioniert der körpereigene Reparaturmechanismus besonders gut: Zerstörte Nervenhüllen werden bei ihnen erneuert. Nach einem Krankheitsschub erholen sich diese Patienten besser als andere von den Symptomen. Bei den restlichen Erkrankten wird zerstörtes Myelin nur unvollständig oder gar nicht ersetzt. Ihnen könnte ein Medikament helfen, das den körpereigenen Reparaturmechanismus aktiviert. Darum will Simons die chemischen Signale verstehen, die die Myelinbildung steuern.

Studiendetails zu Simons Forschung

Inhibition of Myelin Membrane Sheath Formation by Oligodendrocyte-derived Exosome-like Vesicles

Mostafa Bakhti, Christine Winter, Mikael Simons

Abstract

Myelin formation is a multistep process that is controlled by a number of different extracellular factors. During the development of the central nervous system (CNS), oligodendrocyte progenitor cells differentiate into mature oligodendrocytes that start to enwrap axons with myelin membrane sheaths after receiving the appropriate signal(s) from the axon or its microenvironment. The signals required to initiate this process are unknown. Here, we show that oligodendrocytes secrete small membrane vesicles, exosome-like vesicles, into the extracellular space that inhibit both the morphological differentiation of oligodendrocytes and myelin formation. The inhibitory effects of exosome-like vesicles were prevented by treatment with inhibitors of actomyosin contractility. Importantly, secretion of exosome-like vesicles from oligodendrocytes was dramatically reduced when cells were incubated by conditioned neuronal medium.
In conclusion, our results provide new evidence for small and diffusible oligodendroglial-derived vesicular carriers within the extracellular space that have inhibitory properties on cellular growth. We propose that neurons control the secretion of autoinhibitory oligodendroglial-derived exosomes to coordinate myelin membrane biogenesis.

The Journal of Biological Chemistry, 286, 787-796, http://doi.org/10.1074/jbc.M110.190009

Im Auftrag der MRF widmet sich Simons einer weiteren Frage: Wie genau geht das Myelin bei einem MS-Schub zugrunde? Wie werden seine Zerfallsprodukte abgebaut? Denn es gibt Hinweise darauf, dass die Entzündung länger aktiv bleibt und die Heilung verzögert wird, wenn das zerstörte Myelin nicht schnell genug verstoffwechselt wird.

Für diese Fragen hatte sich Simons schon interessiert, bevor er die MRF kannte. Reine Auftragsforschung käme für ihn nicht infrage, sagt er: „Für mich macht genau das den Reiz meiner Arbeit aus: mir neue Fragestellungen selbst auszudenken.“ Bevor Simons Arzt wurde, hatte er sich für Wirtschaftswissenschaften immatrikuliert. Er dachte, dass er dadurch die Welt etwas besser verstehen würde. Dann habe er schnell gemerkt, „dass es dort nur um Zahlen ging“. Heute liest er nach der Arbeit Bücher über Philosophie und Psychologie. Die Welt und die Menschen, beides würde Simons immer noch gern ein bisschen besser verstehen.

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Zum Mittagessen trifft er sich mit seiner Kollegin Christine Stadelmann in der Kantine der Uniklinik. Er erzählt, dass er seiner zwölfjährigen Tochter jetzt abends immer das Handy wegnimmt, weil die pro Tag 100 Whatsapp-Nachrichten schreibt. 100 Nachrichten – Simons kann es nicht fassen. „Kontrolle muss sein“, sagt er streng. Stadelmann lacht, auch sie hat Kinder.

Die beiden kommen auf die Telefonkonferenz mit den Amerikanern zu sprechen. Einmal pro Monat schalten die MRF-Forscher sich zum Gespräch zusammen. Termine zu finden ist gar nicht so einfach – die Zeitverschiebung. Zuletzt ging es um Studienergebnisse eines Pharmakonzerns, der ebenfalls die Remyelinisierung erforscht. Einige der Amerikaner, sonst grundsätzlich optimistisch, hielten das Ergebnis der Studie für entmutigend. Sie waren am Boden zerstört und zweifelten an ihrer Mission – was, wenn das Myelin sich einfach nicht heilen lässt?

Dabei sind Zweifel bei der MRF nicht vorgesehen. Wenn Scott Johnson die Stimmung in seinem Team beschreibt, verwendet er gern das geflügelte Wort „Drinking the Kool-Aid together“. Eine Anspielung auf den Massenselbstmord, den Anhänger einer US-Sekte 1978 begingen: Hunderte von ihnen tranken damals vergiftete Instantlimonade, als es ihr Anführer befahl. „Drinking the Kool-Aid together“ steht für das blinde Vertrauen in eine Ideologie, für den bedingungslosen Zusammenhalt in einer Gruppe. Es kann bedeuten, gemeinsam durchs Feuer zu gehen, um etwas Großes zu erreichen. Es kann auch bedeuten, jemandem hinterherzuspringen, der sich aus dem Fenster stürzt. „Ich weiß, dass meine Idee riskant ist“, sagt Johnson, „aber dafür ist es eine, die das Potenzial für den Durchbruch birgt. Und das Risiko, eine Dummheit zu finanzieren, senken wir dadurch, dass so viele Experten darüber wachen.“

Stadelmann und Simons lernten Scott Johnson in einem Flughafenhotel in San Francisco kennen, die MRF hatte dort für eine Konferenz ein paar kleine Räume gemietet. Stadelmann imponierte, wie Johnson den Ton angab, auch vor dem Stiftungsbeirat, der mit Koryphäen der Neurowissenschaften besetzt ist: „Da saßen diese ganzen Menschen mit ihren hochkarätigen Positionen und hörten sich an, was Scott Johnson von ihnen erwartet.“ Und Simons merkte spätestens beim Abendessen mit dem Amerikaner, dass er ihm Unrecht getan hatte: „Ich hatte ihn für irgend so einen reichen Unternehmer gehalten, der einfach sein Geld zur Verfügung stellt.“

Dabei hatte Johnson bei der Gründung der MRF gar kein Geld, um Forscher zu bezahlen – was er aber niemandem sagte, als er begann, Kongresse zu besuchen und Experten zu bearbeiten. Erst als die ersten Zusagen kamen, begann er, Spenden zu sammeln.

Die Wissenschaftler der MRF werden nicht nur von einem Beirat kontrolliert. Sie überprüfen sich auch ständig gegenseitig. Alle Versuchsprotokolle werden auf einem zentralen Server gespeichert, auch unveröffentlichte Ergebnisse werden miteinander geteilt – sehr gewöhnungsbedürftig für Wissenschaftler, die sich sonst ungern in die Karten schauen lassen. Er habe schon Kandidaten von seiner Liste gestrichen, sagt Johnson, die zwar als fachlich brillant, aber als menschlich schwierig oder nicht teamfähig gelten.

Bei der Expertensuche in Europa kooperiert Johnson mit der Hertie-Stiftung, die seit Jahren die MS-Forschung in Deutschland fördert. Sie stellte auch den Kontakt zu Stadelmann und Simons her und finanziert deren Arbeit. „Uns hat das Konzept der MRF überzeugt“, sagt Projektleiterin Eva Koch. „Und wir waren beeindruckt davon, wie viele renommierte Experten er bereits in seinem Team hatte.“

Die Abteilung der Neuropathologie der Universitätsmedizin in Göttingen ist ein Labyrinth aus Fluren. An den Wänden brummen Brutschränke mit Zellkulturen. Vor Christine Stadelmann liegt eine Auswahl von Objektträgern, die sie gleich der Reihe nach in ihr Lichtmikroskop schieben wird. Kleine Plättchen aus Glas, darauf die hauchdünnen Scheibchen menschlichen Gehirns, tintenblau, himbeerrot oder bernsteinbraun angefärbt. Richtig heißen die Färbungen: Luxol Fast Blue/PAS, Hämatoxylin-Eosin oder Silberimprägnation nach Bielschowsky. Jede von ihnen hebt andere Bestandteile des Gewebes hervor. Erst durch den Abgleich verschiedener Färbungen derselben Gehirnstelle bekommt Stadelmann ein vollständiges Bild.

Viele Proben stammen aus dem Leichenkeller der Unimedizin. Dabei ist Multiple Sklerose in der Regel nicht tödlich, die Patienten sind aus anderen Gründen gestorben, bevor Mediziner wie Stadelmann einen Weg finden konnten, ihre Krankheit zu heilen. Das wertvollste Untersuchungsmaterial bekommt Stadelmann aber nicht aus dem Keller, sondern auf dem Postweg in gut gepolsterten Schachteln: frisches Material von besonderer Qualität, es stammt aus den Gehirnen lebender Spender, denen zur Diagnostik die Schädeldecke angebohrt wurde. Die Proben werden Stadelmann von Kollegen aus aller Welt zugeschickt, weil sie zu den wenigen Experten auf ihrem Gebiet zählt.

Die Neuropathologin untersucht, wie sich die Zellen in den Entzündungsherden der Multiplen Sklerose verhalten. Wie viele Fresszellen wandern ein, um zerstörtes Myelin zu beseitigen? In welcher Phase der Entzündung reifen neue Oligodendrozyten aus, die das zerstörte Myelin ersetzen können? Werden genug Proteine gebildet, die für die Remyelinisierung wichtig sind? Bei der Untersuchung der menschlichen Gehirne geht es auch darum zu prüfen, wie gut sich die Ergebnisse aus den Tierversuchen auf den Menschen übertragen lassen. Umgekehrt können Stadelmanns Erkenntnisse in neue Tierversuche einfließen.

Aktuelle Studiendetails zu Stadelmanns Forschung

Transcript profiling of different types of multiple sclerosis lesions yields FGF1 as a promoter of remyelination

Hema Mohan, Anita Friese, Stefanie Albrecht, Markus Krumbholz, Christina L Elliott, Ariel Arthur, Ramesh Menon, Cinthia Farina, Andreas Junker, Christine Stadelmann, Susan C Barnett, Inge Huitinga, Hartmut Wekerle, Reinhard Hohlfeld, Hans Lassmann, Tanja Kuhlmann, Chris Linington, Edgar Meinl

Abstract

Chronic demyelination is a pathological hallmark of multiple sclerosis (MS). Only a minority of MS lesions remyelinates completely. Enhancing remyelination is, therefore, a major aim of future MS therapies. Here we took a novel approach to identify factors that may inhibit or support endogenous remyelination in MS. We dissected remyelinated, demyelinated active, and demyelinated inactive white matter MS lesions, and compared transcript levels of myelination and inflammation-related genes using quantitative PCR on customized TaqMan Low Density Arrays. In remyelinated lesions, fibroblast growth factor (FGF) 1 was the most abundant of all analyzed myelination-regulating factors, showed a trend towards higher expression as compared to demyelinated lesions and was significantly higher than in control white matter. Two MS tissue blocks comprised lesions with adjacent de- and remyelinated areas and FGF1 expression was higher in the remyelinated rim compared to the demyelinated lesion core. In functional experiments, FGF1 accelerated developmental myelination in dissociated mixed cultures and promoted remyelination in slice cultures, whereas it decelerated differentiation of purified primary oligodendrocytes, suggesting that promotion of remyelination by FGF1 is based on an indirect mechanism. The analysis of human astrocyte responses to FGF1 by genome wide expression profiling showed that FGF1 induced the expression of the chemokine CXCL8 and leukemia inhibitory factor, two factors implicated in recruitment of oligodendrocytes and promotion of remyelination. Together, this study presents a transcript profiling of remyelinated MS lesions and identified FGF1 as a promoter of remyelination. Modulation of FGF family members might improve myelin repair in MS.

Acta Neuropathologica Communications 2014, 2:178

Wer so viel Tod sieht wie Christine Stadelmann, dem kommen bestimmte Gedanken. Manchmal ist es der, dass von ihr eines Tages auch nur das übrig bleibt: ein toter Körper, ein totes Gehirn. Manchmal der, dass man diesem Patienten hätte helfen können, wäre er doch nur einige Jahre später erkrankt. „Ich bin absolut überzeugt, dass die Myelinreparatur eines Tages möglich sein wird“, sagt Stadelmann. „Aber jeder von uns hat nur seine Lebensspanne zur Verfügung, um etwas zu erreichen. Das gilt für Scott Johnson und für mich auch. Danach müssen andere weitermachen. Trotzdem ist alles, was wir hier tun, von Bedeutung.“

So wie es aussieht, wird Scott Johnson nicht mehr von der Arbeit seiner Stiftung profitieren. Die Krankheit hat in seinem Körper nicht nur die Nervenhüllen, sondern die Nerven selbst angegriffen. Ironie des Schicksals: Er fördert genau den Zweig der MS-Forschung, der ihm selbst nicht mehr nützen kann. Doch darum, sich selbst zu heilen, geht es Scott Johnson schon lange nicht mehr. Nicht einmal darum, der Erste zu sein. 20 bis 30 Pharmakonzerne setzten ebenfalls auf die Reparatur des Myelins, sagt er, nicht alle davon arbeiteten mit seiner Stiftung zusammen. Wenn eines von diesen Unternehmen zuerst ein neues Medikament herausbringen würde, es wäre ihm recht: „Mir ist nur wichtig, dass es die Patienten erreicht.“

Christine Stadelmann sieht es genauso: „Ich würde mich auch darüber freuen, wenn jemand anderes mit der Reparatur des Myelins Erfolg hat.“ Die Erforschung der Krankheit der 1000 Gesichter, sie wäre damit ja noch längst nicht vorbei: „Es gäbe auch so noch genug zu tun.”

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