Da kann sich die Giraffe ein Leben lang nach den hohen Blättern recken – ihre Nachkommen bekommen davon keine längeren Hälse. Ohne Mutation keine neuen Köpermerkmale in der nächsten Generation, sagt die Evolutionstheorie. Zu einfach gedacht, sagen einige Biologen: Auch antrainierte Eigenschaften könnten die Artenbildung vorantreiben.
Auf den ersten Blick wirkte es wie Tierquälerei, was Emily Standen vorhatte: aus einem Aquarium fast das gesamte Wasser ablassen und schauen, wie die Fische damit fertig werden. „Ehrlich gesagt, war ich einfach gespannt, ob sie an Land überhaupt überleben würden“, sagt Standen.
Nun ist die Idee nicht so krude, wie sie klingt, denn es geht hier um Bichir-Fische, die Luft atmen und sich notfalls sogar an Land fortbewegen können. Anstoß könnte man schon eher daran nehmen, welcher Grundgedanke hinter dem Experiment steht, das die Biologin 2008 startete.
Zwei Jahre zuvor hatte ein 360 Millionen Jahre altes Fossil weltweites Aufsehen erregt: Die versteinerten Überreste eines Lebewesens, das auf den Namen Tiktaalik getauft wurde, lieferten sozusagen einen Schnappschuss des Augenblicks, in dem unsere fischigen Vorfahren an Land krochen und begannen, ihre Flossen in Gliedmaßen umzuwandeln. Diesen entscheidenden Moment der Evolution wollte Standen nachspielen, indem sie Bichir-Fische dazu zwang, auf dem Trockenen zu leben.
Klingt gewagt? Tatsächlich gelang den zum Landleben gezwungenen Bichir-Fischen weitaus mehr als das bloße Überleben. Ihr Gang – wenn man diese Fortbewegungsart so nennen will – verbesserte sich. Sie brachten die Flossen näher an den Körper, hoben die Köpfe vom Boden und rutschten seltener aus als Fische, die im Wasser groß geworden waren. Und auch ihr Knochenapparat veränderte sich. Die „Schulter“-Knochen verlängerten sich und entwickelten eine größere Kontaktfläche mit den Flossenknochen, sodass sich die Fische besser vom Boden abdrücken konnten. Die knöcherne Verbindung zum Schädel lockerte sich dagegen, was den Kopf beweglicher machte. Der Ablauf zeigt frappierende Übereinstimmungen damit, was wir über die Evolution unserer Tiktaalik-Vorfahren in vierbeinige Landbewohner wissen.
Wirklich verblüffend an diesem Experiment aber war, dass die Entwicklung nicht etwa erst eintrat, nachdem man mehrere Fischgenerationen an Land gezüchtet hatte und nur die besten „Landläufer“ sich fortpflanzen ließ. Nein, das Ganze spielte sich innerhalb der Lebenszeit des einzelnen Fisches ab. Man musste nicht mehr tun, als junge Fische für acht Monate an Land zu zwingen, um solche dramatischen Entwicklungen auszulösen.
Die Vorstellung, dass die Formbarkeit eine Rolle bei der Evolution spielt, ist mehr als 150 Jahre alt. Damals nahmen etliche Biologen an, dass Tiere Merkmale vererben können, die sie zu Lebzeiten erwerben. Biologie-Schulbücher beschreiben hier gern die Vorstellung, dass Giraffen lange Hälse bekamen, weil sie sich immer nach den hohen Blättern streckten. Der französische Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck ist der bekannteste Vertreter dieser Vorstellung, aber auch Darwin dachte ganz ähnlich. Er entwickelte sogar eine ausgefeilte Theorie, die erklären sollte, wie Informationen über körperliche Veränderungen in Spermien und Eier gelangen. Auf diese Weise, so meinte Darwin, würde die Formbarkeit zu erblichen Variationen führen, an denen dann die natürliche Auslese ansetzen und ihre Wunder vollbringen könne.
Auch Darwin glaubte, dass erworbene Eigenschaften vererbt werden können.
Die moderne Genforschung verbannte derartige Theorien ins Archiv der Lächerlichkeiten. Was Tiere während ihres Lebens tun, kann unmöglich an die Nachfahren vererbt werden, so die herrschende Lehrmeinung. Und das bedeutete auch, dass die Formbarkeit in der Evolution keine Rolle spielen konnte.
Nur wenige Biologen hielten das für relevant im Zusammenhang mit der Evolution. Denn Veränderungen, die während der Lebenszeit eines Tieres erworben wurden, waren ja nur vorläufig. Würde man zum Beispiel die Nachkommen von Standens Fischen, die an Land spazieren gehen, in einem Aquarium großziehen, dann müssten sie genauso aussehen und sich genauso verhalten wie ganz normale Bichir-Fische.
Was aber, wenn die Umweltbedingungen, die zu derartigen Veränderungen führen, von Dauer sind? In der Natur kann das passieren, wenn zum Beispiel andere Räuber auf den Plan treten oder das Klima sich ändert. Wenn dann die Individuen der betroffenen Population allesamt bestimmte Eigenschaften entwickeln, und das über Generationen hinweg – dann könnte man meinen, hier habe eine Evolution stattgefunden. Die Änderungen könnten aber auch körperliche Reaktionen einzelner Tiere auf die neuen Umweltbedingungen sein, die nicht vererbt werden. Sichergehen könnte man erst, wenn man einige Individuen in einer anderen Umwelt aufwachsen ließe und beobachtete, ob sie dort diese Merkmale auch entwickeln.
Unter bestimmten Umständen kann also die Formbarkeit bei Tieren dazu führen, dass sie scheinbar eine Evolution durchmachen, obwohl das streng genommen nicht der Fall ist. Die entscheidende Frage bleibt allerdings, ob am Ende nicht doch echte Evolution stattfindet – im Sinne von erblicher Veränderung. „Man kann eine Generation nach der anderen formen“, sagt Standen, die jetzt an der kanadischen University of Ottawa in Ontario lehrt. „Aber kann man auch irgendwann die Umweltveränderungen wieder rückgängig machen, und die Organismen behalten ihre Veränderungen bei?“
Die Frage ist wohl mit Ja zu beantworten, wie der britische Biologe Conrad Hal Waddington in den 1950er-Jahren an Fruchtfliegen nachwies. Erhitzte er Fliegenlarven kurzzeitig, entwickelten sich einige Nachkommen ohne Queradern in den Flügeln. Diese Fliegen züchtete Waddington dann. Nach 14 Generationen fehlten bei etlichen von ihnen auch dann die Queradern, wenn ihre Larven gar nicht erhitzt worden waren. Ein körperliches Merkmal, das ursprünglich die Reaktion auf einen Umweltauslöser war, hatte sich zu einem erblichen Merkmal entwickelt.
Wie kann das sein? Es kann zum Beispiel passieren, dass ein Organismus auf Umwelteinflüsse reagiert, indem er mehr von einem bestimmten Hormon produziert oder Gene aktiviert, die vorher inaktiv waren. Er entwickelt sich dann anders, kann diese Veränderungen aber nicht vererben.
Das geschieht erst dann, wenn zufällige Mutationen auftreten, die ebenfalls solche Veränderungen hervorrufen. Und wenn diese Veränderung in der jeweiligen Umwelt einen Überlebensvorteil darstellt, breiten sich solche Mutationen in der Population aus. Und so entsteht mit der Zeit ein genetisches Gerüst, das den veränderten Entwicklungsverlauf festschreibt. Dann ist der Umwelteinfluss nicht mehr nötig. Ein bleibendes, genetisches Merkmal ist entstanden.
Conrad Waddington bezeichnete diesen Prozess als genetische Assimilation. Das mag zwar nach Giraffenhals-Lamarckismus klingen, ist es aber nicht. Die erworbenen Merkmale haben nämlich keinen direkten Einfluss auf die genetischen Veränderungen, wie Jean-Baptiste Lamarck und Charles Darwin annahmen. Sie helfen den Tieren nur beim Überleben in einer Umwelt, in der eine bestimme Mutation von Vorteil wäre.
Waddingtons Forschungsergebnisse wurden lange Zeit nicht sonderlich ernst genommen. Aber seit etwa zwanzig Jahren ändert sich das allmählich. Ein Grund dafür ist die Erkenntnis, dass Gene viel flexibler sind, als man bislang glaubte. Wir wissen mittlerweile, dass Tiere in ihrem Verhalten und ihrem Körperbau in größerem Maße von der Umwelt beeinflussbar und weniger starr programmiert sind, als man angenommen hatte.
Einige Biologen schreiben der Formbarkeit inzwischen eine sehr wichtige Rolle in der Evolution zu. Eine Minderheit, wie Kevin Laland von der britischen University of St. Andrews, behauptet sogar, das gängige Bild der Evolution – erst die Mutation ermöglicht die Anpassung – gehöre grundsätzlich infrage gestellt.
Kritiker dieser Haltung wenden ein, dass auch bei genetischer Assimilation die Evolution immer noch ihren Grundregeln gehorche – auf Dauer gehe es immer um die Ausbreitung von Mutationen. Wie formbar Tiere zu Lebzeiten seien, sei letztlich egal.
Aber der Punkt sei doch, sagen Biologen wie Laland, dass die Formbarkeit den Ausschlag dafür geben könne, welche Mutationen sich verbreiteten. Deshalb sollte man ihre Rolle auch entsprechend würdigen: „In etlichen neueren Grundlagenlehrbüchern zur Evolution wird die Formbarkeit nicht einmal erwähnt.“
Sie mag manchmal eine Rolle spielen, erwidern die Skeptiker, aber bestenfalls eine untergeordnete. „Kaum jemand bezweifelt, dass Genetische Assimilation vorkommen kann“, sagt der Evolutionsbiologe Gregory Wray von der Duke University im US-amerikanischen Durham. „Aber leider gibt es kaum Anhaltspunkte dafür, dass sie in der Natur eine Rolle spielt.“ Und das macht Standens Fisch-Experiment so bedeutsam: Das Ergebnis legt nahe, dass Formbarkeit einen entscheidenden Anteil bei einem der wichtigsten evolutionären Übergänge hatte – dem Übergang vom Fisch zum vierbeinigen Landtier.
Er fand heraus, dass die „zweibeinigen“ Ratten längere Hinterbeine entwickelt hatten als die normalen vierbeinigen Ratten und dass ihre Oberschenkelköpfe vergrößert waren – also die Kugeln im Hüftgelenk. Solche Veränderungen fanden auch statt, als unsere hominiden Vorfahren den aufrechten Gang entwickelten.
Foster hofft, dass er seine Ergebnisse noch in diesem Jahr veröffentlichen kann. „Ich halte Adams Studie für sehr überzeugend“, sagt Jesse Young von der Northeast Ohio Medical University, in dessen Forschungsgruppe Foster heute arbeitet. „Als er damit anfing, war ich schon etwas skeptisch. Die Sache sah nicht danach aus, als würde man auf irgendwas Nützliches stoßen.“
Doch auch die Arbeiten von Standen und Foster lassen nur vermuten, dass Formbarkeit eine Rolle bei wichtigen evolutionären Übergängen spielen könnte – bewiesen ist das noch nicht. Die Studien zeigen zum Beispiel nicht, ob bei den Ratten oder den Bichir-Fischen die körperlichen Veränderungen durch Mutationen fixiert wurden. Dass hier genetische Assimilation stattfindet, ist laut Standen gar nicht leicht zu belegen. Bei ihren Bichir-Fischen wäre es sogar unmöglich. „Sie sind zwar ganz wunderbar, aber auch sehr frustrierend“, sagt Standen. „Sie brauchen beinahe zehn Jahre bis zur Erwachsenenreife, und selbst dann ist es sehr schwierig, sie in Gefangenschaft zu züchten.“ Für das Studium von Mutationen müsste man aber viele Generationen in relativ kurzer Zeit beobachten können.
„Es gibt keine Indizien, anhand derer wir uns für eine der beiden Theorien entscheiden könnten.“
Per Ahlberg, Universität Uppsala
Fossilfunde helfen in der Regel auch nicht weiter. Es sei gut möglich, dass Formbarkeit hinter einigen der Veränderungen stand, die Fische bei ihrem Weg an Land durchliefen, und nicht Mutationen, meint Per Ahlberg von der Universität Uppsala in Schweden. Beweisen könne man das aber nicht: „Es gibt keine Indizien, anhand derer wir uns für eine der beiden Theorien entscheiden könnten.“
Es gibt Biologen, die in dieser Hinsicht optimistischer sind. Seit Langem schon ging man davon aus, dass einige Teile des Skeletts formbarer und evolutionsfreudiger sind als andere, sagt William Harcourt-Smith vom American Museum of Natural History. „Ein Fuß- oder Handknöchel könnte uns mehr wichtige Informationen liefern als zum Beispiel ein Hüftknochen.“
Arbeiten wie die von Adam Foster werden zeigen, ob das stimmt. Und sie könnten uns auch dabei helfen, die fossilen Überreste unserer Vorfahren besser zu analysieren. „Diese Experimente sind sehr aussagekräftig“, sagt Harcourt-Smith. „Durch sie können wir möglicherweise erkennen, ob Merkmale formbar sind oder nicht.“
Zum Beispiel die Wabenstruktur in den Köpfen unserer langen Knochen: Sie ist leichter und fragiler als bei unseren ausgestorbenen Vorfahren wie den Neanderthalern. In einer kürzlich veröffentlichten Studie verglichen Forscher die Knochen menschlicher Jäger und Sammler mit denen der ersten Farmer in Nordamerika. Es stellte sich heraus, dass unsere Knochen erst mit der veränderten Lebensweise unserer Ahnen schwächer wurden. „Wir könnten genauso starke Knochen haben wie unsere prähistorischen Vorfahren“, sagt der Co-Autor der Studie, Colin Shaw von der University of Cambridge. „Haben wir aber nicht, weil wir körperlich weniger aktiv sind.“
Vor allem bei den Fossilien von Hominiden sei es denkbar, dass Veränderungen am Skelett schlicht ein Ergebnis der Formbarkeit seien – und eben kein Hinweis auf die Entwicklung einer neuen Art, sagt Shaw: „Menschen sind einzigartig. Kultur ist unsere erste Verteidigungslinie gegen eine fordernde Umwelt. Wenn die nicht ausreicht, weil zum Beispiel die Kleidung, die wir herstellen, uns nicht warm hält, dann könnte die Formbarkeit als zweite Verteidigungslinie ins Spiel kommen. Und erst wenn diese scheitert, greift die Genetik.“
„Wir könnten genauso starke Knochen haben wie unsere prähistorischen Vorfahren. Haben wir aber nicht, weil wir körperlich weniger aktiv sind.“
Colin Shaw, University of Cambridge.
Aber können Merkmale, die aufgrund von Formbarkeit entstehen, wirklich durch genetische Assimilation fixiert werden? Vor zehn Jahren entwickelte der Biologe Richard Palmer eine Methode, um Fossilfunde daraufhin zu untersuchen. Die meisten Tiere haben eine Reihe von asymmetrischen Merkmalen, die genetisch festgelegt sind. Bei uns zum Beispiel die Lage von Organen, von denen wir nur eines haben, etwa das Herz. Aber bei anderen Spezies sind die Asymmetrien formbar. So kann die vergrößerte Schere der männlichen Winkerkrabbe sowohl links als auch rechts liegen. Beides ist gleich wahrscheinlich.
Anhand von 68 Fossilresten von Pflanzen und Tieren konnte Palmer zeigen, dass in 28 Fällen Asymmetrien, die mittlerweile erblich und immer auf derselben Körperseite ausgeprägt sind, früher nicht erblich waren und auf beiden Körperseiten auftraten. „Ich glaube, das belegt ziemlich eindeutig, dass genetische Assimilation vorkommt, und zwar häufiger, als man annahm“, sagt Palmer, der in Kanada an der University of Alberta forscht.
Allerdings hat die Sache einen Haken. Die Asymmetrien, die durch genetische Assimilation verfestigt und somit vererbbar wurden, müssten nicht unbedingt durch Formbarkeit entstanden sein, sagt Palmer. Sie könnten auch das Ergebnis eines „zufälligen genetischen Grundrauschens“ gewesen sein.
Die evolutionäre Bedeutung der Formbarkeit sei nicht so einfach zu belegen, sagt auch Mary Jane West-Eberhard, eine sehr einflussreiche Forscherin auf diesem Gebiet, die am Smithsonian Tropical Research Institute in Costa Rica lehrt. „Wenn sich die Evolutionsbiologie mit natürlicher Artenbildung beschäftigt, ist sie notwendigerweise immer auf eine indirekte Beweisführung angewiesen – also auf das Zusammentragen von Fakten, die eine Hypothese entweder stützen oder zu Fall bringen.“
Die Fakten, die bislang zusammengekommen sind, scheinen die Hypothese zu stützen. Und mit weiteren neuen Ergebnissen ist zu rechnen: Emily Standens Arbeit mit den an Land lebenden Fischen inspiriert andere Forscher. „Ich werde jetzt häufiger gefragt, ob mir nicht noch weitere Tierchen einfallen, an denen man das ausprobieren kann“, sagt sie. „Alle sind freundlich und begeistert und sehr interessiert. Das macht Spaß – so sollte Wissenschaft sein.“•