Am 3. Juli 2009 ist Randolf Pohl ein Jungforscher, dessen Karriere auf der Kippe steht. Am 4. Juli 2009 ist Randolf Pohl der Jungforscher, der die Physik erschüttern könnte. Im letzten Anlauf gelingt es seinem Team, das Proton genauer zu vermessen als jemals zuvor. Wenn die Ergebnisse stimmen, geht es auf atomarer Ebene womöglich ganz anders zu als gedacht. Fünf Jahre später weiß die Fachwelt immer noch nicht, wie sie mit seinen Daten umgehen soll. Pohl auch nicht. Aber er liefert schon mal neue.
Kurz vor Mitternacht machen die Physiker Pause. Sie sagen, sie würden etwas trinken gehen, aber sie haben keine Kneipe im Sinn, sondern den Automaten am Eingang der Experimentierhalle, der stilles, sprudeliges und gekühltes Wasser spendet. Sie müssen besprechen, wie es in dieser Nacht weitergehen soll, und sie haben schon seit Stunden nichts getrunken, denn das ist in der Halle verboten.
Sechs Studenten, Doktoranden und Nachwuchsforscher machen sich auf den Weg und passieren am Eingang einen Apparat, der die Radioaktivität an ihren Händen und Füßen misst. Nach fünf Sekunden erscheint die Meldung „Nicht kontaminiert“ auf dem Monitor.

Auch mit seinen eigenen Messergebnissen geht Pohl so um. Er hätte allen Grund, selbst „Alarm!“ zu rufen, weil er etwas gemessen hat, was die Physik erschüttern könnte, doch er hält sich zurück. „Ich persönlich glaube, dass unsere Messung korrekt ist“, sagt er, „aber das heißt nichts.“ Mit seinen Kollegen hat Pohl vor fünf Jahren entdeckt, dass das Proton, ein Baustein aller Atomkerne, womöglich kleiner ist, als es im Lehrbuch steht. Seine Messung weicht nur vier Prozent vom etablierten Wert ab, etwa 70 billiardstel Meter, aber das ist in der Welt der Präzisionsphysik unerklärlich viel.
Sollte diese Messung stimmen, hat die Fachwelt zwei Möglichkeiten: Entweder korrigiert sie den alten Wert, was für alle eine Überraschung wäre, weil er auf zwei ganz verschiedenen Messverfahren basiert, die dann beide fehlerhaft sein müssten. Oder sie räumt ein, dass Pohl und seine Kollegen den Schlüssel für eine neue Physik gefunden haben: irgendetwas Unbekanntes, das dafür sorgt, dass die neue Messung von den alten abweicht – vielleicht steckt sogar ein Teilchen dahinter, das nicht im Standardmodell der Materie enthalten ist. Auch das klingt unwahrscheinlich, denn dieses Modell hat den Anspruch, alle physikalischen Teilchen zu erfassen.
Ihr Ergebnis könnte der Anfang einer wissenschaftlichen Revolution sein. Also messen Pohl und seine Kollegen lieber noch einmal nach.

Wenn man vom Wasserspender aus zurück in die Halle schaut, sieht man zuerst die blaue Holzbaracke, in der die Computer des Teams stehen, dahinter mächtige Betonklötze, zu meterhohen Wänden gestapelt. Ein graues Labyrinth, in dem jede Forschergruppe, die hier arbeitet, ihre eigene, vor Strahlung geschützte Versuchsnische hat. Die von Pohls Team ist gleich die erste, nur fünf Menschen finden hier zwischen den Geräten auf einmal Platz. Hinter noch mehr Betonmauern, rund 100 Meter vom Eingang entfernt, steht der Teilchenbeschleuniger.
Manchmal fällt er aus, manchmal muss er gewartet werden. Aber jetzt gerade liefert er volle Leistung: 2190 Mikroampere meldet die Anzeige am Halleneingang.

Innerhalb weniger Tage steht der Kasten, in dem die Physiker mit dem Protonenstrahl des Instituts Myonen erzeugen. Diese ungewöhnlichen Teilchen kann man sich als besonders schwere Elektronen vorstellen, sie werden später als Messsonden auf die Protonen geschossen, deren Durchmesser Pohls Gruppe ermitteln will. Schnell aufgebaut sind auch die schweren Magnete, die den Myonenstrahl im Halbkreis in die Messapparatur lenken. Dort aber folgen die Myonen einer komplizierten Choreografie, bei der jeder Schritt überwacht werden muss. Und in dieser Apparatur, die nicht viel größer ist als die Schachtel einer Flasche Champagner, müssen alle zur Überwachung nötigen Komponenten einzeln getestet und geeicht werden. Diese Arbeit erfordert die meiste Zeit.


Es wäre nicht das erste Mal, dass die Physiker ohne Ergebnis nach Hause fahren. „This is a horrible night“ steht in der DIN-A4-Kladde mit der Aufschrift „2009 III“, einem der Laborbücher, die Pohls Gruppe in der blauen Holzbaracke aufbewahrt. Datum des Eintrags: 4. Juli 2009, 5:44 Uhr. In jenem Sommer hat Pohls Gruppe schon zum dritten Mal Versuchszeit auf der Anlage beantragt und bekommen, zum dritten Mal versucht sie, den Durchmesser des Protons zu bestimmen. Projekt und Karriere stehen auf der Kippe – irgendwann muss man Ergebnisse vorweisen. Als Pohl seinen Frusteintrag schreibt, ist der Teilchenbeschleuniger schon wieder für eine Stunde ausgefallen. Er ist mit seiner Geduld fast am Ende. Der Eintrag im Laborbuch ist ein letztes Stöhnen – wenige Minuten bevor die Gruppe feststellt, dass sie gerade das Proton neu vermessen hat. Ob sie einer großen Sache auf der Spur ist oder einem Irrtum aufsitzt, ist offiziell noch nicht geklärt, aber die Aufmerksamkeit der Fachwelt hat sie gewonnen.
Im Laboralltag geht es um andere Dinge, jetzt zum Beispiel um ein kleines Stück silbrige Folie. Die soll in der Anlage die Röntgendetektoren von dem Laserstrahl abschirmen, der später für die Messung gebraucht wird. Trotzdem melden die empfindlichen Bauteile, dass Laserlicht zu ihnen durchdringt. Pohl steht mit seinen Kollegen am Wasserspender und bespricht, woran das liegen könnte. Hat sich der Kleber am Rand der Folie gelöst? Oder hat sie einen Riss bekommen, weil man sie zu fest in die Apparatur gedrückt hat? Es hilft nur eins: Aufmachen und nachsehen. Kein Problem, das kommt immer wieder vor. „Wer nie etwas kaputtmacht“, sagt Pohl, „kommt nicht weit.“ Man muss die Geräte kennenlernen.

Antognini vergleicht den Versuchsaufbau mit einem Orchester: „Die Kunst besteht darin, dass alle Instrumente zur gleichen Zeit einsatzbereit sind.“ Magnete, Linsen, Blenden, Spiegel und Detektoren müssen richtig eingestellt sein – und natürlich muss auch der Computer mitspielen, der die Messungen überwacht, von denen jede nur eine Millionstelsekunde dauert.

Etwas genauer ausgedrückt, passiert Folgendes: Pohl und seine Kollegen lenken in ihrer Apparatur Myonen auf Atomkerne. Je nach Element enthalten diese ein oder mehrere Protonen und werden von Elektronen umkreist. Die Myonen ersetzen nun die Elektronen, und weil sie schwerer sind, umkreisen sie den Atomkern auf einer niedrigeren Bahn – das erlaubt präzisere Messungen.
Die Physiker beschießen die Atome mit einem Laserstrahl, dessen Frequenz sie laufend hoch- und herunterregeln. Wenn sie die richtige Frequenz erwischen, werden die Myonen durch Laserenergie angeregt und springen auf eine höhere Umlaufbahn, von der sie sofort wieder herunterfallen. Dabei senden sie einen Röntgenblitz aus, den – mit etwas Glück – die Detektoren in der Apparatur registrieren.
Entscheidend für die Messung: Der Quantensprung auf die höhere Bahn gelingt nur mit der exakt richtigen Menge Energie. Je höher das Team den Frequenzknopf drehen muss, umso mehr Energie haben die Myonen für ihren Sprung benötigt. Wenn sie die richtige Frequenz getroffen haben, sprechen die Physiker von einer Resonanz und berechnen daraus die Größe des Atomkerns: je höher die Frequenz, umso kleiner ist er.











Auf dieser Idee beruht Randolf Pohls Karriere. Als er am 4. Juli 2009 im Laborbuch über seine schreckliche Nacht klagte, lief das Projekt schon zwölf Jahre. 1997 hatten die Physiker Theodor Hänsch und Franz Kottmann mit einigen Kollegen vorgeschlagen, Myonen als Sonden zu nutzen, um das Proton präziser zu vermessen. Eine Nachkommastelle wollten sie dem Durchmesser-Wert hinzufügen, um die Vorhersagen der Atomtheorien genauer zu überprüfen.
Pohl promovierte damals bei Hänsch und wies in seiner Arbeit nach, dass die Messung funktionieren kann: Zumindest einige wenige Myonen kreisten so lange auf der richtigen Bahn um die Protonen, dass genug Zeit blieb für den Laserschuss.
Der erste richtige Durchlauf im Jahr 2003 führte zu keinem Ergebnis. Das Team gab dem Laser die Schuld und baute einen besseren. Doch auch der nächste Versuch vier Jahre später scheiterte. Auch in diesem Fall habe es eine überzeugende Erklärung gegeben, sagt Pohl. „Wir konnten immer zeigen, dass wir wissen, was wir tun.“ Vielleicht half auch der Nobelpreis, den Theodor Hänsch inzwischen bekommen hatte, als das Team zum dritten Mal Versuchszeit am Paul-Scherrer-Institut beantragte. Doch dieser dritte Durchlauf galt als letzte Chance. „Ich konnte damals nicht mehr guten Gewissens Doktoranden annehmen, weil ich ihnen keine Perspektive bieten konnte“, sagt Pohl.
Manche Kollegen konnten sich damit profilieren, dass sie mit dem Laser forschten oder die Detektoren verbesserten. Pohl aber war auf ein Messergebnis angewiesen. Für seine wissenschaftliche Karriere sah es nicht gut aus: „Es ist nicht optimal, so lange ohne relevante Fachpublikationen zu sein“, sagt der 42-Jährige rückblickend. Sein Fach zu beherrschen und Fleiß zu demonstrieren genügt nicht, um als junger Physiker auf sich aufmerksam zu machen.
Der Durchbruch vom 4. Juli 2009 hat Pohls Gruppe nicht nur auf die Titelseite von Nature gebracht, einem Fachmagazin, das weltweit beachtet wie kaum ein anderes. Auch finanziell hat er weniger Sorgen. Der Europäische Forschungsrat (ERC) fördert seine Arbeit mit einem Stipendium von rund 1 Mio. Euro. Genug Geld für eigene Mitarbeiter. Genug Geld für neue Nachtschichten im Paul-Scherrer-Institut.
Für ihre aktuelle Messung haben die Physiker Helium als Atomkern gewählt, weil sie das Wasserstoffatom mit nur einem Proton schon gründlich genug untersucht haben. Zwei Protonen und zwei Neutronen ballen sich hier in dem Kern, den die Myonen umkreisen. Um sie zum Quantensprung anzuregen, muss der Laser auf eine Frequenz im Infraroten eingestellt sein, die fast schon im Bereich des sichtbaren Lichts liegt. Auf diese Strahlung springen dummerweise auch die Röntgendetektoren an – und darum darf kein Loch sein in der dünnen, mit Aluminium bedampfte Plastikfolie, an der sich das Team jetzt zu schaffen macht: Wenn sie dicht bleibt, filtert sie das Laserlicht heraus und lässt nur die Röntgenstrahlung durch.

Später in der Nacht, an der Eingangspforte des Paul-Scherrer-Instituts, versucht Randolf Pohl zu erklären, warum er in all den Jahren nie aufgegeben hat: „Entweder man macht seine Sache zu hundert Prozent, oder man lässt es.“ Eine Karriere in der Industrie wäre für ihn nur zweite Wahl gewesen. Auch dort hat man es zwar als Laserexperte mit anspruchsvollen Problemen zu tun und löst sie im Team. Aber es wäre nicht dasselbe, sagt Pohl knapp. Mit seinen Kollegen fertigt er nicht in Serie: „Es macht mir Spaß, mit intelligenten Leuten zusammen zu basteln.“ Die Physiker haben kein Marketing und keinen Vertrieb. Sie haben die volle Kontrolle über ihr komplexes, einzigartiges Messgerät, und sie kämpfen darum, dass es tut, was es soll. Es gibt sehr viele Schrauben, an denen sie drehen können. Aber sie können eben auch an allen drehen. Außerdem winke ein unvergleichliches Erfolgserlebnis: „der Natur ein Geheimnis zu entlocken – als Erster“.
Früher wäre er nicht schon um zwei Uhr nachts nach Hause geradelt, sagt Pohl. „Damals haben wir um unser Leben geforscht.“ Doch der Druck hat seit der ersten erfolgreichen Messung am 4. Juli 2009 ein wenig nachgelassen; die Physiker gönnen sich nun den Luxus, während der Messungen nachts zu schlafen.

Im Laborbuch wirken die Physiker nach dieser Überraschung wie ausgewechselt. Sie messen und messen, sie kleben Schaubilder mit den Ergebnissen ins Buch und halten nebenbei fest, dass Bob Marley als Begleitmusik zu besseren Werten führt als Abba. Zwei Tage später gratuliert Theodor Hänsch per E-Mail; ein Ausdruck kommt ebenso ins Laborbuch wie das Etikett einer Flasche Moët & Chandon Impérial. Am 8. Juli 2009 um 17:45 Uhr wird mit dem Champagner angestoßen, um 19:32 Uhr aber schon das nächste Messergebnis protokolliert. Die Physiker drucken ihre Erfolgsmeldung auf T-Shirts und laden den Chef des Paul-Scherrer-Instituts zur Besichtigung ein. Er verlängert ihre Versuchszeit um einige Wochen. Nun geht es darum, die Entdeckung wasserdicht zu belegen.

Inzwischen spricht man in der Fachwelt vom „proton puzzle“, der abweichende Messwert ist zum anerkannten Problem geworden. Die Vereinigung Codata, die Messungen zu physikalischen Grundgrößen sammelt und alle vier Jahre einen Bericht mit den offiziellen Zahlen herausgibt, hat das Ergebnis 2010 noch außen vor gelassen. Der Wert war damals zu frisch und hätte sich auch gleich auf andere physikalische Größen ausgewirkt, die mit dem Protondurchmesser zusammenhängen. Das Bild, das sich Physiker von der Materie machen, ist so elaboriert und in sich schlüssig, dass sie vom Standardmodell sprechen. Diese gut gestützte Theorie stürzt nicht einfach zusammen. Aber die Fachwelt wird bald entscheiden müssen, wie sie auf die überraschenden Ergebnisse reagiert.


Zwei Tage nach den Schwierigkeiten mit der Folie starten die Physiker den ersten Versuch. Der Magnet, der die Messapparatur umschließt, wird mit flüssigem Helium gekühlt, bis der Strom verlustfrei durch seine Spule fließt. Das so erzeugte Magnetfeld ist zwei Millionen Mal so stark wie das der Erde. Die Schraubenschlüssel, die einen Meter entfernt an der Wand hängen, werden magnetisiert und kleben aneinander. Während einige Kollegen die Kabel zum Computer prüfen, ist noch kurz Zeit zum Staubsaugen. Dann wird die Tür verriegelt und das Gatter für den Teilchenstrahl geöffnet.

Es laufen zwar sehr viele Ergebnisse ein: Trotz aller Abschirmung schießen viele Teilchen durch die Versuchsanlage, auch stören Myonen das Bild, die nicht die richtige Geschwindigkeit haben und trotzdem Quantensprünge machen. Aber nur alle paar Minuten registrieren die Physiker einen der gewünschten Röntgenblitze, wenn ein vom Laser angeregtes Myon von seiner höheren Bahn herunterfällt. Nach zwei bis drei Stunden haben sie genug gemessen und können beim Laser eine neue Frequenz einstellen. Es wird noch bis kurz vor Weihnachten dauern, dem Ende ihrer Versuchszeit, bevor Pohl und seine Kollegen auch beim Helium die gesuchte Resonanz finden.
Ein Jahr ist das jetzt her. Ist nun die Zeit gekommen, um „Alarm!“ zu rufen? Das überlässt Pohl anderen. Außerdem werde die Detailanalyse der Daten noch eine Weile dauern, denn alle Ungereimtheiten in der Statistik müssen geprüft werden. Eine anspruchsvolle und interessante Aufgabe, versichert Pohl. Auch wenn sein Herz für das Experimentieren schlägt.
Aber wer im Wissenschaftssystem bestehen will, der kann nicht nur in der Beschleunigerhalle stehen. Natürlich bewerbe er sich auf Professuren, sagt Pohl. Sprechstunden abhalten, Prüfungen abnehmen, Gutachten schreiben und im Fakultätsrat sitzen, anstatt spät in der Nacht Resonanzen zu messen? „Ich muss ja“, sagt Pohl, und es klingt ein bisschen traurig. Wie ein Abschied.
Sein Doktorvater Theodor Hänsch soll sich immer viel Zeit für die Laborarbeit bewahrt haben. Doch das gelingt nicht jedem im Universitätsbetrieb. Genug zu forschen gäbe es für Pohl: In seinem Team werde jetzt demokratisch entschieden, was als Nächstes komme, erzählt er. Dieselbe Messung mit dem nächstgrößeren Atom, also mit Lithium? Oder lieber die magnetische Struktur der Protonen untersuchen?
Was genau sein Team kurz vor Weinachten 2013 gemessen hat, möchte Pohl noch nicht verraten – zu groß ist die Gefahr, dass Wissenschaftsmagazine Fachartikel ablehnen, wenn die Ergebnisse schon publik sind. Nur so viel: Nicht nur bei normalen Heliumatomen, auch bei der Variante Helium-3 hat sein Team eine Resonanz gefunden. Weil Helium aus mehr als einem Proton besteht, kommen bei diesen Messungen weitere Effekte ins Spiel. Das ist für die Theoretiker wichtig, die immer noch nach einer Erklärung suchen.
Das Protonenrätsel bleibt bestehen.•